Aggressionen abbauen

Wie kann man lernen, bei sich selbst Aggressionen abzubauen?

Wie kann man anderen dabei helfen?

Die Ursachen für eine erhöhte Aggressionsbereitschaft wurden schon genannt: Angst, Sich-unterdrückt-Fühlen, Müdigkeit, Hunger, Stress, seelische Belastung. Hinzu kommen noch individuelle Dispositionen wie z.B. Hass auf einen bestimmten Menschen, ein cholerisches Temperament oder bestimmte Lebensumstände.

Hierzu ein Beispiel: Er sitzt gemütlich zu Hause und freut sich, endlich zu einer Beschäftigung zu kommen, die er schon lange geplant hat. Plötzlich stürzt sie herein und ruft: „Komm sofort nach draußen, Marianne hat sich ganz fürchterlich verletzt.“ Er springt sofort auf und ist uneingeschränkt motiviert, zu helfen. Ärger darüber, dass er schon wieder von der gewünschten Beschäftigung abgehalten wird, kommt nur für Bruchteile von Sekunden auf und ist sofort überwunden. D.h., in dem Augenblick, in dem ein Einklang hergestellt werden kann zwischen dem eigenen Willen und dem, was zu tun ist, ist man eins mit sich und handelt ruhig und sachlich konzentriert. Würde derselbe Mensch von einem Hausgenossen an etwas erinnert oder zu etwas aufgefordert werden, das auch ein anderer machen könnte, der vielleicht nur zu faul ist, es zu tun, würde er gereizt reagieren und vielleicht sogar in Wut geraten wegen der unnötigen Unterbrechung – er wäre u.U. anhaltend verstimmt. Es ist wichtig, auf die Kluft aufmerksam zu werden, die sich zwischen Denken und Handeln, zwischen dem Motiv und der eigenen Willensbereitschaft, auftun kann. Wird dies bewusst und als Ursache für emotionale oder aggressive Entladungen erkannt, kann auch daran gearbeitet werden.

Augenblicke der Wut nachträglich überdenken

Wer nun bei sich entdeckt, dass er leicht wütend wird und gerne an seinem eigenen Aggressionspotential arbeiten möchte, kann sich folgendes vornehmen: Er merkt sich im Laufe des Tages die Augenblicke, in denen er in Wut geriet. Am Abend, wenn der Zorn oder die Wut abgeklungen sind, gilt es, diese Augenblicke wieder ins Bewusstsein zu rufen und sich zu fragen, warum man seine Wut nicht beherrschen konnte. Es kommt jetzt darauf an, noch einmal genau den Ablauf der wuterzeugenden Situation zu durchzudenken. Gerät man dabei wiederum in Wut, ist es besser, ein paar Tage verstreichen zu lassen und erst später auf diese Situation zu schauen. Gelingt es jedoch, der Situation sachlich gegenüberzutreten, so, als wäre das Ganze einem anderen Menschen passiert, kann man anfangen, sich Fragen zu stellen, wie berechtigt die Wut war und ob dieser Ausbruch unbedingt nötig war bzw. welche Möglichkeiten es gegeben hätte, es anders zu machen.

Wenn man schließlich doch zu dem Schluss kommt, dass die wütende Reaktion das einzig richtige Verhalten war, kann man sich fragen, ob man den Verlauf des Wutausbruches – gerade weil er berechtigt war – nicht bewusster und konstruktiver hätte gestalten können.

Warum hat man sich zu den hässlichen Worten hinreißen lassen?

War das wirklich nötig?

Wusste man, wie es dem anderen ging und warum er gerade so gehandelt hat, wie er es tat?

Man hätte ja auch sagen können – und nicht schreien müssen: „Merkst du gar nicht, wie unverschämt du bist? Lass mich jetzt in Ruhe.“

Es kann aber auch sein, dass man bei einer solchen abendlichen Betrachtung bemerkt, dass man dem anderen Unrecht getan hat, und man kann sich nun vornehmen, bei nächster Gelegenheit auf den Betreffenden zuzugehen. Die verbale Zurücknahme einer Handlung – auch wenn sie nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann – ist immer heilsam. Sie schafft wieder Freiräume in der Begegnung und ermöglicht neue Schritte in der Beziehungsgestaltung.

So lautet eine der vielfach bewährten goldenen Regeln für ein gemeinsames Leben, dass jeder darauf achtet, den anderen täglich mindestens einmal für irgendetwas zu „loben“ und auch zuzugeben, wenn man etwas Dummes gesagt hat oder etwas hätte besser machen können. Anerkennung durch den anderen wird immer dankbar entgegengenommen. Dabei wird auch die Bereitschaft zu verstehen und zu verzeihen geübt (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Das Böse verzeihen) .

Um mit den eigenen aggressiven Neigungen umgehen zu lernen, ist es hilfreich, sich jeden Abend wie ein Zuschauer vor die Theaterbühne zu setzen und verschiedene Szenen des durchlebten Tages auf ihr noch einmal ablaufen zu lassen und zu überlegen, wie man diese Szene anders oder besser hätte spielen können. Je intensiver man sich die bessere Bewältigungsmöglichkeit der Situation vor Augen führt und sich darauf freut, das Erkannte bei einer anderen Gelegenheit in die Wirklichkeit umzusetzen, umso leichter wird es gelingen. Vielleicht kann man sich sogar bestimmte Worte und Sätze zurechtlegen und üben, damit man sie auch parat hat, wenn es soweit ist. Gerade in engeren menschlichen Beziehungen wie Ehen oder Lebensgemeinschaften entzünden sich unbeherrschte Wutmomente an immer gleichen oder ähnlichen Situationen, so dass diese Art des Übens und des Sich-Vorbereitens tatsächlich sehr viel bewirken kann.

Niedrigere Hemmschwelle in engen Beziehungen

In engen menschlichen Beziehungen ist die Hemmschwelle grundsätzlich niedriger als gegenüber Fremden. Das kann man schon an Kindern beobachten, die, wenn sie sich wehgetan haben, in Gegenwart von Fremden nicht weinen, sondern erst dann ihre Anspannung loslassen, wenn sie die Mutter von weitem sehen oder nach Hause gebracht werden. Diese abgesenkte Hemmschwelle hat darin ihre Ursache, dass man sich in einer nahen Beziehung verstanden fühlt und auch mit Trost und Hilfe rechnet. So zeigt man der nahestehenden Person die eigene Hilfsbedürftigkeit und verbirgt sie nicht aus Angst, mit den eigenen Bedürfnissen an der falschen Adresse zu sein. Daher können gerade in nahen Beziehungen schon tiefe Verletzungen entstehen und entsprechende Reaktionen hervorgerufen werden, wenn man einander nur ein wenig infrage stellt.

Ideal ist es natürlich, wenn man einen Lebenspartner hat, mit dem man sich über solche Übungsaufgaben unterhalten kann, mit dem man gemeinsam in Ruhe Situationen dieser Art durchspielen und besprechen kann. Bei akuten Problemen im zwischenmenschlichen Bereich ist das natürlich schwer, bei länger zurückliegenden ist es leichter. Es ist aber immer hilfreich, wenn es die eigenen Kinder und den Umgang mit ihnen betrifft: Wenn Kinder spüren, dass die Eltern sich in wesentlichen Fragen einig sind bzw. sich bemühen, einig zu werden und nicht ihre eigenen ungeklärten Fragen und Probleme auf ihrem Rücken austragen, wirkt sich das wohltuend auf die Erziehung aus.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997**