Anthroposophie als Weg zur Wahrheit

Was unterscheidet die Anthroposophie von einer Kirche?

Was ist das verbindende Element der Anthroposophie?

Was macht sie zu einem christlichen Weg?

Erkenntnis-Christentum

Die Anthroposophie ist ein Weg zur Wahrheit und keine Ideologie, die Wahrheiten verkündet (vgl. Biographiearbeit: Der Mensch als sich entwickelnde Wahrheit). Alles, was Rudolf Steiner an Wissen darlegt, sind nur Beispiele, wie Wege gefunden werden können. Als Kernsatz der Theosophie1 steht ganz am Anfang: „Nicht glauben sollst du, was ich dir sage, sondern es denken.“ Ich will dich nachdenklicher machen, sonst nichts. Das hat mit Wissenschaft zu tun, mit Erkenntnis, nicht mit Religion. Die Anthroposophie ist vielmehr ein radikales, nicht kirchliches Erkenntnis-Christentum, ein esoterisches Christentum. Das ist etwas völlig anderes als das exoterische Kirchenchristentum. Wir Anthroposophen suchen die direkte Offenbarung, das Gralsmysterium: Im Parzival sind auch alle katholisch, aber nicht kirchlich. Das ist ein riesiger Unterschied. Wir sind keine Religion, sondern suchen das Christentum, die spirituelle Kommunion, im Denken (vgl. Religion: Das Geheimnis von Verdauung und Transsubstantiation). Unsere geistige Arbeit zielt darauf, direkte Berührung mit der geistigen Welt zu haben, ohne dass ein Papst oder sonst ein Kirchenvertreter dazwischen steht und uns von sich abhängig macht. So etwas ist vollkommen gegen den Gedanken der Autonomie.

Deswegen sehe ich nur dann eine Zukunft für die Kirchen, wenn sie den individuellen Weg und die direkte Offenbarung zulassen (vgl. Kirche und Gemeinde: Die Fähigkeit der Integration). Das ist heute noch nicht der Fall, weswegen die Anthroposophie von den Kirchen erbittert als „Eso-Sekte“ abgelehnt wird. Wir stellen für die Kirchen eine große Gefahr dar, weil wir alle quasi „Päpste“ sind und uns ein eigenes Urteil zutrauen. Wir sind nicht mehr beherrschbar. Aber auch Freidenker, freie Menschen, dürfen Christen sein, nicht nur Gruppengläubige.

Alle dürfen dazugehören

Zur Anthroposophie dürfen alle dazugehören: Unter unseren Hochschulmitgliedern sind auch Buddhisten. Ich kenne einen japanischen zen-buddhistischen Priester, den Leiter eines Tempels, der gleichzeitig Anthroposoph und Hochschulmitglied ist. Durch seine meditativen Praktiken war er so außerkörperlich geworden, dass er praktisch nicht mehr begriff, was er erlebte und Gefahr lief, psychisch krank zu werden. Durch die Anthroposophie lernte er seine spirituellen zen-buddhistischen Erlebnisse zu deuten und konnte seine Erfahrungen schließlich einordnen und für sich klären – das hat ihn gerettet. Er ist jetzt ein begeisterter Anthroposoph und gleichzeitig auch buddhistischer Priester.

Der Begründer der Heilpädagogik, Karl Schubert, arbeitete an der ersten Waldorfschule mit Kindern in einer Förderklasse. Er war wie Steiner Österreicher und katholisch. Als im Oktober 1922 die Christengemeinschaft von katholischen und protestantischen Priestern gemeinsam gegründet wurde, fragte er Steiner, ob er nun aus der katholischen Kirche austreten müsse. Man kann sich fast an den Fingern abzählen, was Steiner antwortete: „Du musst nicht aus der katholischen Kirche austreten, wie denn auch? Es ist ein großer Gewinn für die katholische Kirche, wenn du ihr Mitglied bleibst.“ Schubert ist nicht ausgetreten und hat sich auch katholisch bestatten lassen.

Es steht nicht nur in den Statuten, dass Menschen aller Religionen, aller esoterischen Systeme und Hautfarben Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft werden können. Das ist gelebte Praxis. Welche Begriffe die Einzelnen für ihre spirituelle Erfahrung wählen oder welche göttliche Instanz, welches höhere, wahre Selbst sie in sich entdecken, hängt meist mit der Kultur zusammen, in der sie leben. Die Hauptsache ist, dass wir uns alle in der tief menschlichen Kernsubstanz treffen, die in dem wahren menschlichen „Ich bin“ zuhause ist und die uns in dieser großartigen Schöpfung führt und leitet.

Toleranz durch Erkenntnis – ein Friedensweg

Die Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der alle mitnimmt (vgl. Freie Hochschule für Geisteswissenschaft: Rudolf Steiners Lebensthema). Das macht sie aus meiner Sicht so christlich. Sie interessiert sich für alles und will jede Ausrichtung, jede Erfahrung verstehen. Das Verstehen will sie in das Menschheitsganze integrieren, sodass möglichst wenige Dinge unverstanden, unverbunden, hart und manchmal feindlich oder kriegerisch nebeneinander stehen. Toleranz entsteht nur durch Verständnis! Unsere Welt ist so intolerant, weil wir so wenig verstehen! Lapidar könnte man sagen, die Anthroposophie ist dafür da, diese Erkenntnisdefizite ein bisschen auszugleichen. Sie ist ein Friedensweg, weil sie durch Erkenntnis toleranter macht.

Die Anthroposophie ist also weder konfessionell noch auf eine bestimmte esoterische Richtung festgelegt. Die spirituelle Orientierung der Anthroposophie hängt einzig mit dem Selbstverständnis des eigenen Denkens zusammen. Wir lernen als Anthroposophen, das Denken als die spirituelle Kraft im Menschen zu entdecken und zu handhaben, sodass jeder sich kraft seines eigenen Denkens bewusst und auf individuelle Weise in eine Religionsgemeinschaft, eine esoterische Gruppierung, in irgendeine spirituelle Gruppierung hineinzustellen in der Lage ist, auf die Art, wie er es verantworten kann.

Sich eine eigene Weltanschauung erarbeiten

Entwicklung zur Freiheit ist in diesem Kontext eine Erziehung zur Fähigkeit, sich seine eigene Weltanschauung, seine eigene spirituelle Orientierung, zu erarbeiten, mit der man durchs Leben gehen will. Wenn Menschen sagen – „Aber die Anthroposophie ist doch ganz und gar christlich!“ – muss man sagen: „Das stimmt, aber nicht in einem konfessionellen Sinn, sondern die Anthroposophie ist christlich im Sinne der drei wesentlichen tief menschlichen Ideale (vgl. Ideale: Die Ur-Ideale – Wahrheit, Liebe und Freiheit): „Ich bin der Weg, die Wahrheit, das Leben.“2 Alles in der Entwicklung geht durch das Nadelöhr dieser drei „Ich bin“:

  • Wahrheit ist Ehrlichkeit.

  • „Wenn zwei in meinem Namen zusammen sind, bin ich mitten unter ihnen“ – das bedeutet liebevolles Verständnis.

  • Die Botschaft im Johannesevangelium – „Die Wahrheit wird euch frei machen“ – bedeutet Respekt vor der Freiheit.

Die christliche Spiritualität ist also ganz allgemein-menschlich und die Anthroposophie hat diese Orientierung. Sie kann deshalb auch für andere religiöse Richtungen wie die buddhistische, hinduistische, islamistische u.a.m. zu einer Möglichkeit werden, im eigenen Denken zu erwachen. Die Anthroposophie kann jedes Religionsbekenntnis vertiefen helfen, indem man durch sie die eigene Religion besser verstehen lernt.

Vgl. Seminargruppe „Die fünf Inspirationsquellen der Anthroposophie“, Witten 2010

  1. Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9
  2. Neues Testament, Johannes 14, 6.