Die fünf Funktionsbereiche in der Anthroposophischen Medizin

1. Physischer Funktionsbereich: Leben im Raum

Alles Physische findet im Raum statt und gründet auf räumlich fassbare Strukturen (vgl. Wesensglieder: Grundlegendes zum Thema Wesensglieder). Der physische Leib des Menschen ist umso gesünder, je besser er an sein Milieu, die jeweilige Umwelt, angepasst ist. Vieles an unserer Umwelt macht uns über Wasser, Ernährung und Luft krank, aber auch – wenn es passend wirkt – gesund. Physisch sind wir offene Systeme. Auch was wir über die Sinne aufnehmen, prägen wir uns ein, prägt uns (vgl. Sinne(spflege): Allgemeines zum Thema Sinne). Alles Schöne wirkt aufbauend, alles Unschöne schwächt. Alles wirkt, egal ob wir sofort krank werden oder nicht.

Hier ist die Domäne der Schulmedizin. Anthroposophische Ärzte sind zunächst alle auch Schulmediziner, das ist unsere Grundlage (vgl. Anthroposophische Medizin: Ita Wegmann und die Entwicklung der Anthroposophischen Medizin). Diagnostische Fragen zum Physischen lauten beispielsweise:

Sind Medikamente nötig, die am Ort des aktuellen Geschehens unmittelbar angreifen?

Ist eine Umgebungsveränderung vonnöten?

Muss in einem bestimmten Bereich Sinnesschulung nachgeholt bzw. verstärkt werden?

Wären Achtsamkeitsübungen bzw. irgendetwas, das die physische Resonanz mit dem Umfeld verbessert, hilfreich?

2. Ätherischer Funktionsbereich: Leben als Prozess

Auch im Ätherischen sind wir offene Systeme. Mit ätherischer Kraft bezeichnet man in der Anthroposophischen Medizin, was man in der orientalischen Tradition Chi oder Lebenskraft nennt. Das Ätherische umfasst alles Prozessuale, das eine Zeitstruktur und Rhythmus hat. Im aristotelischen Sinne befinden wir uns damit in der Kategorie der Zeit. Alles Ätherische ist prozessual, lebendig, zyklisch, miteinander zusammenhängend, voneinander abhängig. Selbstregulation, Selbstheilungsprozesse, Regeneration, Wachstum, Gestaltung haben hier ihren Wirkort. Die anthroposophischen Arzneimittel, die alle prozessorientiert sind, setzen hier an (vgl. Anthroposophische Medizin: Wirkfaktoren in der Anthroposophischen Medizin). Viele werden auch mit homöopathischen Verfahren hergestellt. Alle Prozesse, die uns kränken und gesunden lassen, verlaufen im Zeitlichen. So können sich Verstöße gegen gesunde Lebensrhythmen, z.B. unregelmäßige Ernährung, negativ auswirken, sofern die Selbstregulation dies nicht kompensieren kann. Auch die Lebensgewohnheiten, die Art wie man seine Zeit strukturiert oder eben nicht strukturiert, – wie chaotisch oder geordnet man lebt – beeinflusst diesen Wirkbereich (vgl. Lebensrhythmen: Kraftquelle Rhythmus für Erwachsene).

Denn im Leben herrscht Ordnung, es ist ein geordneter Kosmos. Es wird durch die Sonne, die circadiane 24-Stunden-Rhythmik, durch den Wochenrhythmus und den lunaren Monatsrhythmus beeinflusst. Mit dieser „Bio-Kosmologie“ befasst sich die Rhythmusforschung. Die Sonne ist 150 Millionen Kilometer von uns entfernt. Wenn wir aber Sonnenbrand haben, haben wir ihn hier auf unserer Haut. Unser gesamter Knochenstoffwechsel hängt von der Sonne ab, auch die gesamte chlorophyll-produzierende Pflanzenwelt. Wir sind sonnengetragene Wesen, wir leben in diesem Sonnenraum. Es gibt kein Leben ohne Wasser und Sonne. Die Griechen nannten den durchsonnten blauen Himmel den Äther. Daher auch der Begriff „ätherische Organisation“ für diesen Funktionsbereich. Das Leben auf der Erde muss viel umfassender gedacht werden, als wir das gewöhnlich tun, wenn wir vom Leben sprechen.

Diagnostische Fragen zum Ätherischen zielen daher auf die Lebensgewohnheiten ab: Ernährung, Schlaf, Work-Life-Balance, aber auch Rituale, Gewohnheiten, religiöse oder meditative Hilfsmittel.

3. Astraler Funktionsbereich: seelisches Leben und Erleben – der Wirkfaktor Beziehung

Hier geht es um das Gefühlsleben, um die unbewusste und bewusste Beziehungsgestaltung. Alles, was in einer Beziehung stattfindet, was im Gefühl und Bewusstsein lebt, geht über Raum und Zeit hinaus in die „Innerlichkeit“ und erhält durch die Erinnerbarkeit Dauer. Die Beziehung zu sich selbst und den Menschen und Dingen im Umfeld ist ein reicher Kosmos, ein komplexes Netzwerk, ist so etwas wie eine Sternenkonstellation. Das Wort „Aster“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Stern. Mit diesem Begriff möchte Rudolf Steiner nicht nur an die seelischen Sternkonstellationen erinnern, denen wir angehören, sondern auch an die himmlische Heimat der Seele und deren Verwandtschaft mit der Sternenwelt, die auch in den astrologischen Traditionen zum Ausdruck kommt.

Beziehungen können sich wandeln, wir können unser Verhältnis zu ihnen ändern (vgl. Beziehung(sfähigkeit): Beziehung und Schicksal). Wenn sie kaputt gehen, tut es so weh, dass man früher oder später wieder daran arbeiten wird. Unter dem Gesichtspunkt der Reinkarnation gibt es noch einen weiteren Aspekt, der das Ringen um eine positive Entwicklung in unseren Beziehungen in seiner Bedeutsamkeit unterstreicht. Christian Morgenstern drückt dies in einem seiner Gedichte so aus:

Wir müssen immer wieder uns begegnen
und immer wieder durch einander leiden,
bis eines Tages wir dies alles segnen.
An diesem Tage wird das Leiden weichen,
das Leiden, welches Selbstsucht zeugte,
das Leiden wenigstens, das Blindheit zeugte,
das uns wie blinden Wald im Sturme beugte.
Dann werden wir in neues Ziel und Leben
wie Flüsse in ein Meer zusammenfließen,
und kein Getrenntsein wird uns mehr verdrießen.
Dann endlich wird das „... suchet nicht das Ihre“
Wahrheit geworden sein in unsern Seelen.
Und wie an Kraft wird's uns an Glück nicht fehlen.1

Diagnostische Fragen zu der astralen Wirkrichtung betreffen biographische Zusammenhänge und damit verbundene Krankheitsursachen. Oft können Biographiearbeit, künstlerische Therapien, Bewegungstherapien und Körperarbeit helfen, das Bewusstsein für sich selbst und die Menschen im eigenen Schicksalsfeld zu harmonisieren.

4. Funktionsbereich der Ich-Organisation: als Individuum leben

Hier haben wir es mit dem Bereich zu tun, den Goethe „die Dauer im Wechsel“ nannte. Die Ich-Organisation ist gegenüber dem ewigen Wesen des Menschen, seinem spirituellen Kern, offen (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit). Sie umfasst alle Gesetzmäßigkeiten, die mich vor mir selbst und vor anderen persönlich legitimieren, die nur die eigene Individualität betreffen, für die ich mir selbst die Arbeitsrichtung vorgeben kann. Von der eigenen Ich-Verfassung, vom Selbstwert-Gefühl und der Art der Identitätsbildung hängt es ab, wie lange man z.B. negative Gefühle zulässt oder wieviel Stresstoleranz man besitzt. Wer sein Leben, sein Schicksal, mit allen Hoch- und Tiefpunkten, als seinen persönlichen Entwicklungsweg sehen kann, findet in jeder Lebenslage Motive für das, was gerade hier und jetzt gelernt oder getan werden könnte und kann innere Ruhe und die Übereinstimmung mit sich bewahren. Die Resilienzforschung hat viele wertvolle Beweise dafür geliefert, in welch hohem Maße die Art des Umgangs mit sich selbst und der gewählte Lebensstil den Gesundheitszustand von Leib und Seele beeinflussen (vgl. Kindsein heute: Resilienz trotz Risiko).2

Was muss geschehen, damit ein Mensch wieder zu einer positiven Identität und Lebenseinstellung findet, auch wenn seine Umstände traurig oder widrig sein mögen?

Welche Anregung für die innere Schulung, für sein Selbstmanagement, für seine Identität kann ich ihm vermitteln, damit er sich freudig und wahrhaft als Ich erleben kann?

Fragen dieser Art bewegen den Arzt – aber auch Fragen der Prävention: Was kann in den Erziehungsjahren geleistet werden, nicht nur für eine gesunde körperliche Entwicklung, sondern auch für die seelische und insbesondere die geistige, Identität stiftende Entwicklung?

5. Funktionsbereich der Weltanschauung/spirituellen Orientierung: Weltentwicklung, an der wir teilhaben, bejahen

Hier treten wir aus unserem individuell Menschlichen völlig heraus. Der Kopf ist das Beziehungsorgan, das uns mit der ganzen Welt verbindet, ist unser offenes, rein zur unsichtbaren Welt der Gedanken, den Sinneseindrücken und Vorstellungen, dem Bewusstsein hin orientiertes Gebilde. Paracelsus3 nannte diese Perspektive, die Art, wie wir mit den unsichtbaren Kräften des Denkens, Fühlens und Wollens umgehen, die Quinta Essentia. Die vier anderen „Essenzen“ haben mit den Aggregatzuständen fest, flüssig, gasförmig und Wärme zu tun, die alle noch physisch fassbar sind. Die Quinta Essentia jedoch ist rein spirituell, rein geistig. Sie wird uns zunehmend bewusst durch

Denn wie ich mein äußeres und mein biografisch-zeitliches Leben veranlage, hängt letztlich davon ab, wie ich über mich und andere, über die Welt und Gott denke. Eine echte spirituelle Orientierung ist die stärkste salutogenetische Perspektive (vgl. Gesundheit: Salutogenese – die Lehre von der Gesundheit ).

Erlösende menschheitliche Perspektive

Meine Erfahrung ist, dass es heute immer mehr Menschen gibt, die von einer basalen Trauer und Sorge erfüllt sind in Bezug auf das Weltgeschehen und die Menschheitsentwicklung. Sie sind nicht krank oder deprimiert durch eine schlechte Lebensweise oder Drogen, auch nicht aufgrund negativer Beziehungen. Sie erleben sich vielmehr dadurch beeinträchtigt, dass sie den Eindruck haben, es geht mit der Menschheits- und Erdenentwicklung nicht gut voran.

Um dem konstruktiv begegnen zu können, braucht es eine große, umfassende, menschheitliche Perspektive, die aufzeigt, dass die Menschheit zwar heute eine besondere Krise durchmacht, verursacht durch den Zerfall von Werten und eine enge materialistisch-ökonomische Weltsicht (vgl. Beziehung(sfähigkeit): Die Beziehung zum Weltganzen pflegen). Es gilt jedoch zu verstehen, dass nur der Durchgang durch eine Periode des Verlustes spiritueller Perspektiven und humaner Entwicklungsbedingungen das Individuum aus allen kollektiven – auch der religiösen – Bindungen zu befreien vermag, damit es auf dieser Basis neu und selbstständig sein Verhältnis zum weiteren Verlauf der Geschichte zu bestimmen in der Lage ist. Nur ein echtes Verständnis dieser Entwicklungszusammenhänge kann dem sonst unweigerlich eintretenden Kulturpessimismus vorbeugen bzw. kann ihn heilen (vgl. Menschheitsentwicklung: Der göttliche Weltenplan).

Der Anthroposophische Arzt wird seinen Patienten anamnestisch mit Bezug auf diese fünf Funktionsbereiche hin anschauen und womöglich befragen. Am Ende muss er intuitiv entscheiden, wie er den besten Zugang zu dem betreffenden Patienten finden kann, um die notwendigen Gesundungsprozess anzuregen.

Mehr hierzu in: Was ist Anthroposophische Medizin? Verlag am Goetheanum, 2017

  1. Christian Morgenstern, Stuttgarter Ausgabe. Band 2 Lyrik 1906 - 1914. Urachhaus Verlag, Stuttgart 1992, S. 217.
  2. Siehe z.B. Fröhlich-Gildhoff, Klaus / Rönnau-Böse, Maike: Resilienz. Ernst Reinhardt Verlag, München 2015.
  3. Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim, getauft als Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, (* vermutlich 1493 in Egg, Kanton Schwyz; † 24. September 1541 in Salzburg) war ein Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph. Paracelsus hinterließ zahlreiche deutschsprachige Aufzeichnungen und Bücher medizinischen, astrologischen, philosophischen und theologischen Inhalts, die größtenteils erst nach seinem Tod gedruckt wurden(wikipedia).