Schulmedizin, Anthroposophische Medizin und ältere ganzheitliche Ansätze

Steht die Anthroposophische Medizin im Gegensatz zur Schulmedizin?

Die Frage lässt sich kurz mit Nein beantworten. Rudolf Steiner (1861-1925) und Ita Wegman (1876-1943), die Begründer der Anthroposophischen Medizin (vgl. Anthroposophische Medizin: Entwicklung und derzeitiger Stand), bemerken hierzu:

„Nicht um eine Opposition gegen die mit den anerkannten wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart arbeitende Medizin handelt es sich. Diese wird von uns in ihren Prinzipien voll anerkannt. Und wir haben die Meinung, dass das von uns gegebene nur derjenige in der ärztlichen Kunst verwenden soll, der im Sinne dieser Prinzipien vollgültig Arzt sein kann.

Allein wir fügen zu dem, was man mit den heute anerkannten wissenschaftlichen Methoden über den Menschen wissen kann, noch weitere Erkenntnisse hinzu, die durch andere Methoden gefunden werden, und sehen uns daher gezwungen, aus dieser erweiterten Welt- und Menschenerkenntnis auch für eine Erweiterung der ärztlichen Kunst zu arbeiten."1

Die reguläre akademische Aus- und Weiterbildung ist ebenso Voraussetzung dafür, sich Anthroposophischer Arzt nennen zu können, wie das Studium der anthroposophischen Geisteswissenschaft.

Salutogenetischer Ansatz bevorzugt

Der Anthroposophischen Medizin liegt ein Konzept ganzheitlicher, integrativer Medizin zugrunde, die den Menschen (griechisch: anthropos) mit all seinen Erkenntnis- und Erlebnisformen (griechisch: sophia, wörtlich: Weisheit) in den Mittelpunkt stellt. Für die Praxis heißt dies, dass symptomatisch wirkende Arzneimittel, wie zum Beispiel Antipyretika, Antiphlogistika, Antihypertensiva, Antihistaminika oder die Substitution fehlender, körpereigener Stoffe, oder aber Analgetika und Psychopharmaka, selbstverständlich da zur Anwendung kommen, wo die speziellen Medikamente und Therapieverfahren der anthroposophischen Therapierichtung nicht (mehr) hinreichen, die erforderliche Selbstregulation und Heilung zu stimulieren.

Im Hinblick auf das therapeutische Vorgehen wird der salutogenetische Ansatz bevorzugt, also die Anregung körpereigener, physiologischer Prozessantworten. Diese sind immer individuell. Therapieschemata haben zwar einen wesentlichen, Orientierung gebenden Stellenwert. In praxi gehen die Medikationen jedoch oft darüber hinaus, da sich die Behandlung am Einzelfall orientiert. Anthroposophische Ärzte schätzen die schulmedizinische Behandlung als Akut- und Notfallmedizin hoch, möchten jedoch nicht bei deren Grenzen und Einseitigkeiten stehen bleiben.

Verhältnis zu älteren ganzheitlichen medizinischen Konzepten

Jedem ganzheitlichen medizinischen System – ob es sich nun um traditionell chinesische, ayurvedische oder homöopathische Medizin handelt – liegt ein spirituelles Weltbild zugrunde, das mehr oder weniger konkret die gemeinsame Evolution von Mensch, Erde und Weltall beschreibt. Steiner bemerkt dazu im Hinblick auf seinen Ansatz:2

„Ich möchte nicht versäumen, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass dasjenige, was ich hier vortrage, nicht entlehnt ist älteren medizinischen Schriften, sondern auf durchaus gegenwärtiger geisteswissenschaftlicher Forschung beruht. Nur muss versucht werden, zuweilen in der Terminologie auf die ältere Literatur zurückzugreifen, weil ja die neuere Literatur eine Terminologie nach dieser Richtung hin noch nicht ausgebildet hat. Aber derjenige, der glauben würde, dass irgendetwas hier vorgetragen wird, was nur älteren Schriften entnommen ist, der würde sich eben sehr irren."

Diese von Steiner entwickelte neue Art der geistigen Forschung ermöglicht als anthroposophische Erkenntnismethodik (vgl. Anthroposophische Medizin: Methodische Grundlagen) und dank ihrer Forschungsergebnisse auch neue Einsichten in andere ganzheitliche Konzepte und spirituelle Traditionen der Medizin. Daher gibt es unter ihren Vertretern immer auch „Anthroposophen".

Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012

  1. Rudolf Seiner und Ita Wegmann, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst. Dornach 1935, S. 9.
  2. Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin, GA 312. Sechster Vortrag, Dornach, 26. März 1920. S. 118, Dornach 1999.