Denken, Fühlen und Wollen und Leib, Seele und Geist

Was ist der Unterschied zwischen der Dreigliederung und der Viergliederung?

Wie hängen Leib, Seele und Geist mit Denken, Fühlen und Wollen zusammen?

Welche Rolle spielen dabei die sogenannten Wesensglieder des Menschen?

Scheinbarer Gegensatz von Dreigliederung und Viergliederung

Der Gegensatz zwischen dem Konzept von Geist, Seele und Leib (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Schwellen zwischen Körper, Seele und Geist) – Dreigliederung – und dem Konzept der vier Wesensglieder (vgl. Wesensglieder: Grundlegendes zum Thema Wesensglieder) – Viergliederung – ist nur ein scheinbarer. Es gibt zwei Stellen, in denen Rudolf Steiner den Zusammenhang von Dreigliederung und Viergliederung genauer erklärt (vgl. Wesensglieder: Betrachtung der Wesensglieder unter fünf Aspekten). Einmal beleuchtet Steiner mehr den erzieherischen Prozess und im anderen Fall steht mehr der Heilprozess im Zentrum:

  • Zu den Lehrern spricht er von dem prozessorientierten zeitlichen Aspekt der Wesensglieder, von den sogenannten Geburten in Jahrsiebten.1

  • Mit den Ärzten2 bespricht er mehr den räumlichen Aspekt der Wesensglieder: wie diese auf jeder Ebene des dreigliedrigen Menschen unterschiedlich zusammenarbeiten.

Wesensgliederwirken in Geist, Leib und Seele

Im Grunde greifen wir zu kurz und zeichnen ein unscharfes Bild, wenn wir den Menschen platt materialistisch in Körper, Seele und Geist einteilen. Rudolf Steiner selbst sagt dazu: „Wer irgendwelche vorgefassten Meinungen oder gar Hypothesen mit diesen drei Worten verbindet, wird die folgenden Auseinandersetzungen notwendig missverstehen müssen.“3 Diese Dreigliederung macht nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass alle Kräfte, auch der physische Leib, geistiger Natur sind. Unter diesem Vorbehalt möchte ich sie in aller Kürze skizzieren und auch darauf eingehen, wie die Wesensglieder in welchem Bereich wirken.

1. Geist

Mit Geist wird die von der Materie ganz losgelöste Gesetzlichkeit bezeichnet, also diejenigen geistigen Kräfte, die im Zuge der Ausreifung des physischen Körpers wieder leibfrei geworden sind, die sich quasi wieder exkarniert haben (vgl. Wesensglieder: Inkarnierende und exkarnierende Wesensgliedertätigkeit). Dieser wieder leibfrei gewordene Geist hat dieselben Qualitäten wie die inkarnierten ätherischen, astralen und Ich-Organisations-Kräfte, durch die der Leib entstanden ist. Geist ist laut Rudolf Steiner nicht das Gegenteil von Materie, sondern das außerkörperliche Erleben unserer Wesensglieder im Denken, Fühlen und Wollen. Im Geist erwachen wir als Menschen, die

  • Gedanken bilden
  • Gedanken differenzieren, abwägen, beurteilen
  • sich mit Gedanken verbinden, Gedanken realisieren wollen.

Rudolf Steiner sagt in dem Zusammenhang auch, wir müssten lernen im Denken Hell und Dunkel als Qualitäten zu fühlen. Erst wenn wir die Stimmigkeit, Wahrhaftigkeit bzw. Verlogenheit und „Verbogenheit“ unserer Gedanken fühlen könnten, wenn wir fähig würden, fühlend zu erkennen, ob Gedanken gerade oder krumm sind, erst dann wären wir urteilsfähig und fähig zu michaelischem Denken. Unser Denken wird also von unserem leibfreien Denken, Fühlen und Wollen gleichermaßen ermöglicht und ist eine rein außerkörperliche, geistige Tätigkeit (vgl. Wesensglieder: Die Metamorphose der Wesensglieder in leibfreies Denken, Fühlen Und Wollen):

  • Der leibfreie Ätherleib liefert das Baumaterial für die Gedanken.
  • Der leibfreie Astralleib ist für das Fühlen der Qualität der Gedanken zuständig.
  • Aus der leibfreien Ich-Organisation kommt unser Wille zum Denken.

Dergestalt selbständig denken zu lernen, ist Ziel der gesamten Waldorfpädagogik (vgl. Waldorfpädagogik: Ideal und Prinzipien der Waldorfpädagogik).

2. Leib

Leib ist der mit der Materie verbundene Gesetzeszusammenhang bzw. der Ort, an dem sich alle vier Wesensglieder inkarniert haben – der Leib ist demnach inkarnierter Geist: Ich-Organisation, Astralleib und Ätherleib beleben, beseelen und durchgeistigen die menschliche physische Gestalt mit Geist, Seele und Leben (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Die fünf Ebenen des anthroposophischen Menschenbildes). Jesus spricht vom Tempel des Leibes, in dem der Geist wohnt. Der physische Organismus ist nun wiederum dreigegliedert.

Zur funktionellen Dreigliederung

Rudolf Steiner forschte 30 Jahre lang zur funktionellen Dreigliederung (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Zur funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus) des physischen Organismus,4 und wenn er in dem Zusammenhang auch vom oberen, mittleren und unteren Menschen spricht, geht es nicht um eine Dreiteilung, sondern eine Gliederung in drei ineinandergreifende Funktionssysteme.

  • Das Nerven-Sinnes-System (NSS)

Das Nerven-Sinnes-System (NSS) ist die physische Grundlage der bewussten Denk- und Sinnestätigkeiten und ist im oberen Bereich, dem Kopf mit den Sinnesorganen und dem Gehirn, zentriert. Alle Bewusstseinsvorgänge werden von Astralleib und Ich-Organisation gemeinsam ermöglicht. Die Sinnestätigkeiten vollziehen sich unter der Regie des Ich und unter starker Beteiligung des Ätherischen, das sich jedoch aus dem Nervensystem weitgehend lösen dürfe, sagt Steiner.

  • Das rhythmische System (RS)

Das rhythmische System (RS) befindet sich im mittleren Bereich, im Brustraum. Es lenkt die rhythmischen Transport- und Verteilungssysteme, wie sie von den Atmungsorganen und dem Herzen als Mittelpunkt des Kreislaufsystems ausgehen, und wird stark vom dauerhaft inkarnierten Anteil des Ätherleibes beeinflusst. Würde der Ätherleib auch dort herausgehen, würden wir krank. Der Astralleib pendelt hier zwischen Drinnen und Draußen, insofern als er bei jeder Einatmung ein Stück weit in den physischen Leib hineingeht und sich bei jeder Ausatmung wieder ein Stück weit herauslöst.

  • Das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System (STGS)

Das dritte Funktionssystem, das Stoffwechselgliedmaßensystem, umfasst zwei ganz unterschiedliche Bereiche:

Zum einen regelt das unterhalb des Zwerchfells hauptsächlich im Bauchraum lokalisierte Stoffwechselsystem die unbewussten metabolischen Auf- und Abbauvorgänge. Doch jede Zelle, von den Haarspitzen bis zu den Fußspitzen, wird vom Stoffwechsel aufgebaut und unterhalten. Wenn die vier Wesensglieder hier gut verbunden sind und harmonisch zusammenarbeiten, könne der Mensch laut Steiner nicht krank werden, dann sei er gesund inkarniert. Alle internistischen Erkrankungen hängen mit einer Lockerung von Astralleib und Ich-Organisation aus der physisch-ätherischen Konstitution zusammen. Dann gerät der Stoffwechsel durcheinander und erzeugt diverse Krankheitstendenzen.

Aus dem Gliedmaßensystem dagegen könne sich die Ich-Organisation immer mehr befreien und zum vollgültigen freien Willensvermögen des Menschen werden, zu reinem freien Willen, unabhängig von Denken und Fühlen.

Die Wesensglieder sind also, wie oben bereits skizziert, in den drei Systemen jeweils in unterschiedlicher Weise aktiv:

  • im Nervensinnessystem (NSS) neuro-sensoriell
  • im rhythmischen System (RS) rhythmisch
  • im Stoffwechselsystem (StGS) metabolisch.

3. Seele

Seele ist der Ort der Vermittlung zwischen Leib und Geist, sodass der Mensch mithilfe des Leibes sein individuelles geistiges Wesen erleben kann. In der Seele findet die innerlich gefühlte Begegnung mit sich selbst und der Welt statt. Die Seele atmet und schwingt zwischen Innen und Außen, zwischen Leib und Geist. Unser Seelen- bzw. Gefühlsleben wird von der Zusammenarbeit von leibfreier Ich-Organisation und leibfreiem Astralleib ermöglicht, ihr verdanken wir die Fähigkeit ein Gefühl für unser Ich und die Welt zu entwickeln.

Mitgefühl bedeutet, dass wir ganz beim anderen sind. Aufgrund der Möglichkeit außerkörperlich zu sein, können wir Mitgefühl und Empathie empfinden, können wir bei der Sache und dem anderen sein und uns auf etwas außerhalb unserer selbst konzentrieren; und wir können die Achtsamkeit aufbringen, dort zu sein, wo wir etwas beobachten. Geistesgegenwart bedeutet: Ich bin dort, wo mein Bewusstsein ist. Ich bin nicht mein Leib. Rudolf Steiner formuliert es so: „Das Ich ist in der Gesetzmäßigkeit der Dinge.“ Das Ich ist am Ort des Geschehens. Das Ich steckt nicht im Leib, sondern dort, wo es hinwill, bei den Dingen und Inhalten, für die es sich interessiert. Ich und Welt sind dann eins.

Selbst- und Umweltgefühl sind deshalb immer gemischt, das heißt, wir fühlen uns selbst immer mit, wenn wir die Welt bzw. einen anderen Menschen fühlen. Der Astralleib gaukelt uns quasi nur vor, dass es ein Innen und ein Außen gibt, eine Polarität, eine Dualität. Einen Gegensatz von Welt und Mensch. Das Ich hingegen sieht das alles im Zusammenhang, als Polarität, die erst zusammengenommen das Ganze erfasst und umfasst. Denn es erkennt, dass draußen dieselben Gesetze wie im eigenen Inneren walten.

Wesensglieder und Denken, Fühlen und Wollen

In beiden anfangs genannten Werken – den Leitsätzen5, konkret im Leitsatz zur Lichtnatur des Menschen, aber auch im 2. Medizinervortrag „Geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zur Therapie“6 – spricht Rudolf Steiner über das Denken, Fühlen und Wollen in der Form, dass er sagt, dass wir alle drei mit Bewusstsein, Gefühl und Willen durchdringen können und auch sollen:

  • Denken

Unser Denkvermögen verdanken wir, wie oben bereits ausgeführt, der engen Zusammenarbeit von Ätherleib, Astralleib und Ich-Organisation in leibfreiem Zustand, die sich am Gehirn reflektieren als unsere Gedankenaura. Dadurch sei es uns laut Steiner möglich, unsere Gedanken auch zu fühlen und zu wollen. Von wirklichem Denken könne man also erst sprechen, wenn man selbst Gedanken hervorbringen und auch fühlen kann, was man denkt.

  • Fühlen

Dann sagt er, das leibfreie Fühlen käme dadurch zustande, dass Astralleib und Ich-Organisation verbunden sind und zusammenwirken. Zu fühlen ohne Beteiligung des Denkens wird uns ermöglicht durch eine Kombination aus Willen und Gefühl. Das reine Gefühl unterscheidet sich insofern vom Denken, als dabei die Beteiligung des Ätherleibes fehlt.

Andererseits bekommen wir nur über das Denken Zugriff auf das eigene Fühlen: Rudolf Steiner benennt in der Theosophie7 den Gedanken „Vater des Gefühls“. So ist das Erlangen von Gefühlskontrolle Ziel einer der sechs Nebenübungen.

Wir müssen aber auch unsere Handlungen (Wollen) fühlen lernen, um die Konsequenzen daraus erspüren zu können und zu wahrhaft moralischem Tun fähig zu werden.

  • Wollen, reiner freier Wille

Der Wille hat zwei Betätigungsrichtungen, nach innen und nach außen hin: Damit der Wille in der Welt wirken kann, braucht er einen belebten, beseelten, durchgeistigten, ich-durchdrungenen Leib. Rudolf Steiner sagt,

  • der physische Leib wäre von außen gesehener Wille.
  • Wille von innen gesehen wäre der Wille selbst zu denken.

Die Ich-Organisation steht einerseits im Dienst des Denkens, andererseits im Dienst des Fühlens in Form von Mitleid bzw. von Mitfühlen: Ich will mit dir fühlen. Ich will dir etwas Liebes tun. Doch nur wenn die Ich-Organisation, als dritte Möglichkeit, im Dienst des Willens steht, ist dieser ganz autonom, handelt es sich um reinen freien Willen. Rudolf Steiner sagt, dieser reine freie Wille sei extrem in Gefahr:

  • Das Ich könne sich zu tief „reinsetzen“ – damit ist vor allem gemeint, dass es ganz unten drinsitzt und dadurch nicht frei ist. Man hat den Eindruck, der Jugendliche ist total abhängig von seinem Körper.

  • Oder aber das Ich ist „rausgeschockt“, wie das bei traumatisierten Kindern der Fall ist. Sie wollen gar nicht richtig hinein in ihren Körper, wirken pathologisch leicht. Mich wundert immer, wie wenig „kernig“ sie laufen, nicht kraftdurchdrungen und präsent.

Beide Willens-Typen – der zu lose verbundene und der zu dichte – haben gemeinsam, dass der Wille wenig zugänglich ist. Deswegen sind beide Typen hoch suchtgefährdet.

Vgl. Vortrag „Das anthroposophische Menschenbild“, Schulärztetagung 2014

  1. Rudolf Steiner, Die Bildnatur des Menschen, in: Anthroposophische Leitsätze, GA 26. Dornach 1998.
  2. Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zur Therapie. Neun Vorträge vor Ärzten und Medizinstudierenden, GA 313.
  3. Rudolf Steiner, Theosophie, Kapitel: Das Wesen des Menschen, GA 9, Dornach 1961, S. 24f.
  4. Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln. GA 21. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1983 , S. 150.
  5. Siehe FN 1.
  6. Siehe FN 2.
  7. Rudolf Steiner, Theosophie, GA 09.