Unser Seelenleben

Was ist unter Seele zu verstehen?

Was sind charakteristische Merkmale der menschlichen Seele?

Seele als Innenraum mit beweglichen Grenzen

Was unsere Seele ausmacht, können wir nur durch Beobachtung des eigenen Innenlebens erschließen. Unsere Seele ist gleichsam ein in sich geschlossener Innenraum, in dem sich jeder für sich allein bewegt und der sich von dem aller anderen unterscheidet. So gesehen, ist die Seele der Lebensraum unserer Persönlichkeit. Er kann sich weiten oder eng werden, je nach unseren Lebensumständen und wie wir damit umgehen. Er kann in der Depression so zusammenschrumpfen, dass wir nur noch uns selbst erleben und kein Interesse und keine Anteilnahme an der Welt mehr aufbringen können. Umgekehrt kann er im Zustand voller seelischer Gesundheit so weit werden wie die Welt. Wir können die Probleme um uns herum wahr- und ernstnehmen, und in uns seelisch bewegen. Der Seelenraum ist dann so weit, wie unser Bewusstsein reicht.

Ein Mensch, der sich für viele und vieles interessiert, hat in der Regel keine Zeit, über ein gewisses Maß hinaus persönliche Probleme zu bewegen. Er kann es sich nicht leisten über Unangenehmes zu brüten, damit zu hadern, darüber unzufrieden zu sein. Er wird nicht allzu viel Energie ins Grübeln über die eigene Befindlichkeit investieren. Das geschieht aber umso mehr, je enger und selbstbezogener der eigene Seelenhorizont ist.

Unsere Seele ist demnach immer in Bewegung und hat keine endgültigen Grenzen. Sie ist unser persönliches Erlebnisfeld, das von Gesundheit und Krankheit, von den jeweiligen Lebensumständen, sprich, von unserem Schicksal, stark geprägt wird.

Bewusstes Gestalten des Seelenraumes

Aber eines müssen klarmachen: Unsere Persönlichkeit braucht diesen seelischen Lebensraum. Unser Lebensglück hängt davon ab, ob wir lernen, diesen Raum bewusst selbst mitzugestalten und ihn nicht nur durch Einflüsse von außen bestimmen zu lassen.

Wie ist ein solches Mitgestalten möglich?

Im Seelenraum leben unsere Gedanken, Wünsche, Erinnerungen, Erfahrungen, unsere Lebensmotive, Gefühle und Willensintentionen. Eine Fülle von Empfindungen, Gefühlen, Trieben und Absichten hängt mit unserem Körper zusammen. Wenn wir z.B. hungrig sind und Lust auf dieses und jenes haben, wonach unser Körper verlangt, wird ein großer Teil unseres Seelenlebens unmittelbar davon geprägt. D.h. sehr viele Seelenregungen entstammen Bedürfnissen, die wir eindeutig als leibgebunden empfinden (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Schwellen zwischen Körper, Seele und Geist). Dazu gehört z.B. auch, dass, wenn wir einen schweren Durchfall haben, wir uns seelisch schlapp und lustlos fühlen. Oder dass wir, wenn wir sehr müde sind, uns plötzlich nicht mehr so engagieren können, einfach weil wir nicht mehr dazu in der Lage sind, weil wir „kaputt“ sind. Derartige Erfahrungen führen dazu, dass manche Menschen meinen, das Seelenleben an sich wäre leibgebunden.

Beschäftigt man sich jedoch intensiver mit dem eigenen Seelenleben, merkt man, dass das nicht stimmt. Beim Tier ist die Leibgebundenheit außerordentlich stark, weil die Verhaltensmuster innerhalb einer Gattung einander ähnlich sind und bleiben. Gerade das ist beim Menschen völlig anders: Er kann sich an jede neue Umgebung anpassen, kann immer neue Lernprozesse in Angriff nehmen. Wir Menschen haben nicht nur unbegrenzte Anpassungsmöglichkeiten an die Umgebung, sondern auch unbegrenzte Möglichkeiten uns zu distanzieren, uns innerlich abzugrenzen – auch von uns selbst (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Notwendige Selbsterziehung im Seelischen).

Manche Menschen haben eine krumme Nase oder schielen und haben deswegen ihr ganzes Leben lang Komplexe. Sie schaffen es nicht, sich innerlich mit einer körperlichen Eigenheit abzufinden. Dann wiederum gibt es andere, die sich bis etwa Mitte zwanzig noch krause Locken wünschen oder auch beim Friseur machen lassen – bis sie sich mit ihrem So-Sein identifizieren können bzw. sich innerlich von dem äußeren Makel distanzieren. Gelingt es uns eine gewisse Unabhängigkeit vom Körper zu gewinnen, quasi die eigene Körperbezogenheit in dieser Hinsicht zu verringern, dann gewinnen wir eine viel freiere Einstellung uns selbst und anderen Menschen gegenüber (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Seelenkräfte und Schulungsweg).

Vgl. Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987