Zur funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus

Der Gedanke der funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus beruht auf dreißig Jahre Forschung Rudolf Steiners über den Leib-Seele-Zusammenhang, die er erstmals 1917 im Anhang seines Buches „Von Seelenrätseln“ publizierte.1 Er kam zu der Einsicht, dass die menschlichen Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens nicht vom Nervensystem erzeugt werden – im Gegenteil: Das Nervensystem wird durch sie aufgebaut und durch regelmäßige Nutzung erhalten. Er erkannte darüber hinaus, dass die genannten seelischen Grundfähigkeiten sich durch den ganzen Menschen ausdrücken, der schon von der dritten, vierten Woche der Embryonalentwicklung an eine dreigliedrige Gestalt aufweist.

Dreigliederung und Denken, Fühlen und Wollen

Steiner fand heraus, dass sich

  • nur das wachbewusste Denken und die Sinnesbeobachtung auf die Funktion des Nerven-Sinnes-Systems stützen. Dazu gehören auch die Vorstellungen, die wir uns von unseren Gefühls- und Willenserlebnissen machen.

  • Das Gefühlsleben hingegen zeigte sich ihm in unmittelbarer funktioneller Resonanz mit der rhythmischen Funktionsordnung von Herz-Kreislaufsystem und Atmung.

  • Die Willenstätigkeit wiederum sah er als Ausdruck der Stoffwechsel- und Gliedmaßentätigkeit.

„Man muss nur die Physiologie des Atmungsrhythmus im rechten Lichte sehen, so wird man umfänglich zur Anerkennung des Satzes kommen: die Seele erlebt fühlend, indem sie sich dabei ähnlich auf den Atmungsrhythmus stützt wie im Vorstellen auf die Nervenvorgänge. - Und bezüglich des Wollens findet man, dass dieses sich in ähnlicher Art stützt auf Stoffwechselvorgänge. Wieder muss da in Betracht gezogen werden, was alles an Verzweigungen und Ausläufern der Stoffwechselvorgänge im ganzen Organismus in Betracht kommt. Wie dann, wenn etwas ‚vorgestellt‘ wird, sich ein Nervenvorgang abspielt, auf Grund dessen die Seele sich ihres Vorgestellten bewusst wird, wie ferner dann, wenn etwas ‚gefühlt‘ wird, eine Modifikation des Atmungsrhythmus verläuft, durch die der Seele ein Gefühl auflebt: so geht, wenn etwas ‚gewollt‘ wird, ein Stoffwechselvorgang vor sich, der die leibliche Grundlage ist für das als Wollen in der Seele Erlebte.“2

Begründung mit wissenschaftlichen Mitteln

Der Erlanger Anatomie-Professor Dr. Johannes Rohen trug in seinen Lehrbüchern3 für Anatomie dieser funktionellen dreigliedrigen anatomischen Ordnung Rechnung. Professor Dr. rer. nat. Wolfgang Schad arbeitete diesen Aspekt in einer konsequent durchgeführten Darstellung der Entwicklung der Wirbeltiere im Vergleich zum Menschen auf.4 Rudolf Steiner war sich bewusst, dass seine Entdeckung der seelischen Dreigliederung in Verbindung mit der körperlich-physiologischen und deren naturwissenschaftliche Begründung einer umfangreichen Publikation bedurft hätten, die er während des Ersten Weltkrieges jedoch nicht leisten konnte. Er schreibt: „Ihre Begründung kann durchaus mit den heute vorhandenen wissenschaftlichen Mitteln gegeben werden. Dies würde der Gegenstand eines umfangreichen Buches sein, das in diesem Augenblicke zu schreiben, mir die Verhältnisse nicht gestatten.“5 Schad und Rohen haben diese umfangreiche Arbeit inzwischen weitgehend geleistet.

Was macht diese Sichtweise des menschlichen Organismus auch für den gesundheitswissenschaftlichen Ansatz so wertvoll?

Sie verknüpft drei Aspekte miteinander:

  1. Sie macht den polaren Bau des menschlichen Organismus funktionell und morphologisch transparent.

  2. Sie liefert eine pathologisch und therapeutisch relevante Erklärung des Leib-Seele-Zusammenhangs.

  3. Sie führt nicht nur zu einer neuen Sicht auf die Entstehung von Krankheit, sondern auch zu einem Konzept für die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit (Salutogenese, Hygiogenese) (vgl. Gesundheit: Salutogenese – die Lehre von der Gesundheit ).

Polarität und ausgleichende Mitte

Morphologisch betrachtet sind die Rundheit der Schädelform und die radiale Form der Gliedmaßen echte Polaritäten. Entsprechend polar stehen auch die bewussten, im Kopf zentrierten Denk- und Sinnestätigkeiten den unterhalb des Zwerchfells lokalisierten unbewussten metabolischen Auf- und Abbauvorgängen gegenüber. Dazwischen entfalten sich die rhythmischen Transport- und Verteilungssysteme, wie sie von den Atmungsorganen und dem Herzen als Mittelpunkt des Kreislaufsystems ausgehen. Diese dreiteilige morphologische Grundgliederung bezeichnet Steiner mit:

  • Nerven-Sinnes-System (NSS): die überwiegend im Kopf zentrierte „obere Organisation"

  • rhythmisches System (RS): die überwiegend im Thorax lokalisierte „mittlere Organisation"

  • Stoffwechselsystem (STGS): die überwiegend im Abdomen lokalisierte „untere Organisation".

Dieser Dreigliederung entspricht bereits die Polarität von Ektoderm und Entoderm und den sich aus dem Zusammenspiel beider ergebenden sekundären mesodermalen Strukturen in der Embryonalentwicklung. Sie findet sich aber auch in der Formation des Skelettes wieder: Wirbelsäule und Brustkorb haben einen rhythmisch gegliederten Aufbau (Wirbel, Rippen), im Gegensatz zur radialen Form der Extremitäten und der sphärischen des Kopfes.

Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass sich die funktionelle Gliederung nach drei Funktionsaspekten räumlich im polaren Aufbau des Körpers mit einer rhythmisch gestalteten Mitte abbilden.

Dreigliederung anstatt Dreiteilung

Bei der funktionellen Dreigliederung geht es nicht um eine Dreiteilung in drei streng abgegrenzte Körper-Regionen, sondern um das Ineinandergreifen drei unterschiedlicher Funktionsweisen, die sich in allen drei Bereichen wiederfinden lassen:

  • Selbstverständlich gehört auch der Nervenzell-Stoffwechsel den Stoffwechselfunktionen an.

  • Umgekehrt ist das vegetative Nervensystem, das wahrnehmend und regulierend auf das gesamte Stoffwechselgeschehen einwirkt, Bestandteil des Nervensinnessystems.

  • Entsprechend ist das rhythmische System mit seinen Funktionsleistungen auch im Nervensinnes-System und beim Stoffwechsel wirksam: Die kurzwelligen Rhythmen der elektrochemischen Hirnpotentiale im Sekundenbereich und die langwelligen Eigenrhythmen der Stoffwechselorgane (z.B. Magen / Darmmotilität) im Stundenbereich sind Teil der rhythmischen Gesamtordnung im dreigliedrigen Organismus.

  1. Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln, GA 21.
  2. U.a.: Johannes W. Rohen, Morphologie des menschlichen Organismus. Versuch einer goetheanischen Gestaltlehre des Menschen, Stuttgart 2000.
  3. Wolfgang Schad, Säugetiere und Mensch. Zur Gestaltbiologie vom Gesichtspunkt der Dreigliederung. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1985.
  4. Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln. GA 21. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1983, S. 150.