Ich-Ausdruck im Kontext von Behinderung und Begabung

Für unseren Alltagsblick erscheint ein Mensch umso begabter, je vollkommener er sich durch seinen Körper bzw. seine vier Wesensglieder ausdrücken kann, und als umso unbegabter, je weniger ihm dies gelingt. Das Menschen-Ich (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit), ist weder von Behinderung betroffen, noch ist es begabt, es ist weder krank noch gesund. Es leuchtet vielmehr deutlicher oder schwächer durch eine physische und/oder seelische Behinderung bzw. Begabung der Wesensgliederkonfiguration hindurch.

Bei starken Behinderungen und beim Sterben kann das Wesensgliedergefüge eines Menschen seinem Ich nicht mehr als Instrumentarium des Selbstausdrucks dienen, d.h. es kann sich durch die Hülle der Wesensglieder nur mit größter Mühe und oft auch nur sehr begrenzt zeigen und aussprechen. Umso deutlicher ist das „wahre“ Wesen des Ich jedoch als eigene „Instanz“ oder Wesenheit im Umfeld des betroffenen Menschen wahrnehmbar. Wer Sterbende begleitet oder Menschen mit einer schweren Mehrfachbehinderung pflegt, entwickelt mit der Zeit eine feine Sensibilität für diese An-Wesenheit, die in der Herzregion oft als Kraft, als Wärme, als Geistesgegenwart erlebt wird. Durch diese „intuitiv“-herzliche Verbundenheit stehen Patient und Betreuer in einem direkten nonverbalen Kontakt, sind von Wesen zu Wesen miteinander verbunden.

Das Drama des begabten Kindes

Auch Kinder sind anfangs noch nicht in der Lage, ihrem Ich-Impulsen „gesellschaftskonform“ Ausdruck zu verleihen. Alice Miller schilderte in ihrem Buch „Das Drama des begabten Kindes – und die Suche nach dem wahren Selbst“2 die Persönlichkeit des Kindes als das ursprüngliche, spontane Sich-Äußern und Agieren. Ihr Buch macht darauf aufmerksam, in wie starkem Maß Selbstachtung und Selbstfindung im späteren Leben davon abhängen,

  • ob ein Kind sich in der frühen Kindheit unmittelbar und spontan hat äußern dürfen
  • ob es ihm gestattet war, seine Gefühle und Emotionen offen auszuleben
  • ob der reiche Schatz seiner Begabungen, seines So-Seins von den Eltern und Erziehern freudig begrüßt oder aber als wild, ungezügelt, frech, störend, rücksichtslos zurückgewiesen worden ist
  • ob die Angst, die Eltern könnten sich abwenden und ihre Liebe entziehen, wenn das Kind bestimmte Verhaltensweisen nicht ablegt, dieser Spontaneität ein Ende bereitet hat
  • ob dieser Reichtum in gutgemeinten Ermahnungen, Repressionen und Konventionen erstickt oder durch Vernachlässigung, Härte, Demütigung und Missbrauch gelähmt worden ist.

Alice Miller zeigt auf, dass im späteren Leben Depressionen, aber auch das ständige Bemühen, sich erfolgreich, stark und fähig zu erweisen, Versuche sind, die Zurückweisungen und Verletzungen in der frühen Kindheit zu kompensieren(vgl. Selbstbewusstsein: Was das Selbstbewusstsein prägt). Ihre Ausführungen zeigen, wie wichtig es ist, dass Erzieher ein starkes Vertrauen in das Ich eines Kindes entwickeln sollten, gerade wenn sich dieses auf überraschende, ungewohnte, vielleicht auch aggressive und noch ganz und gar unbeholfene Art durch die verschiedenen Wesensglieder hindurch äußert.

Gelingt es dem Erzieher nicht, einen zuverlässigen liebevollen Kontakt zum Wesen des Kindes aufzubauen, können tatsächlich viele Anlagen und Möglichkeiten verschüttet werden. Dadurch kann insbesondere die Selbstachtung des Kindes Schaden leiden und die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins behindert werden (vgl. Selbstbewusstsein: Selbstbewusstsein erringen als Erwachsener). Folge ist, dass der betreffende Mensch sich nur im Spiegel der Anerkennung anderer und nur als Folge erbrachter Leistung, selber achten kann und sich sofort die Existenzberechtigung abspricht, wenn seine Leistungsfähigkeit nachlässt oder die ersehnte Anerkennung ausbleibt.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 12. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart

  1. Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt a. M. 1995.