Ganzheitliche Förderung bei Begabung und Behinderung

Wie kann man Menschen mit besonderer Begabung bzw. Behinderung unter pädagogisch-physiologischen Gesichtspunkten fördern?

Welche Gesichtspunkte spielen dabei eine wesentliche Rolle?

Die Waldorfpädagogik legt hinsichtlich Lehrplan, Methodik und Didaktik Wert auf eine allseitige Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten beim Kind und Jugendlichen.1 (Vgl. Waldorfpädagogik: Entwicklungsphasen und Pädagogik im Schulalter.) Dieses pädagogische Konzept könnte ebenso in anderen Schulsystemen, aber auch im Rahmen des Lernfeldes „Familie“, angepasst an die jeweiligen Möglichkeiten, umgesetzt werden. Der waldorfpädagogische Ansatz sieht im Zusammenhang mit Begabung und Behinderung vor, dass bei allen Fördermaßnahmen insbesondere auch die körperliche Entwicklung ins Auge gefasst und gefördert wird – ganz gleich, um welches Unterrichtsfach bzw. um welchen Kompetenzbereich es sich handelt.

Pädagogisch-physiologische Grundlagen

Wird die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in einer solch umfassenden Weise unterstützt, also auch ihre körperlichen und seelischen Kompetenzen gefördert und nicht nur ihre intellektuellen, werden sie sich im eigenen Leib „zu Hause“ fühlen. Das bildet die Voraussetzung dafür, dass sich die Kinder mit ihren seelisch-geistigen Kräfte überhaupt dem sozialen Umfeld und ihren Lernaufgaben, später dann ihren Lebensaufgaben, zuwenden können (vgl. Wesensglieder: Die Metamorphose der Wesensglieder in leibfreies Denken, Fühlen Und Wollen). Fühlen sie sich dagegen im eigenen Körper fremd und unsicher, brauchen sie die seelisch-geistigen Kräfte zur Gänze zum Bewältigen und Bearbeiten ihrer persönlichen Probleme. Sie sind dann wie in sich selbst gefangen.

Pädagogisch-physiologische Überlegungen dieser Art (vgl. Denken: Entwicklung der Organsysteme und Denken) bilden eine Grundorientierung im Hinblick auf den Unterricht und die Arbeitsmittel, aber auch wenn es um die altersentsprechende Förderung von den unterschiedlichen Kompetenzen geht. Hier ein weiterer aufschlussreicher Zusammenhang: Es ist erstaunlich, dass körperliche Bewegung das scheinbar geistigste Organ in uns, sprich unser Gehirn und Nervensystem, stimuliert, während das scheinbar Geistigste in uns, unser Denken (als Idealismus und Begeisterungsfähigkeit, einerseits, als depressive Verstimmung andererseits), das Dichteste, Physischste in uns, sprich: unseren Stoffwechsel- und unser Bewegungssystem und damit unsere Haltung und unseren Kräftehaushalt, entscheidend beeinflusst.

  • a) Förderung bei Bewegungsdefiziten

Bewegungsdefizite können je nach Art, Umfang und Alter durch gezielte gymnastische und eurythmische Bewegungsübungen sowie durch spielerische Geschicklichkeitsübungen bearbeitet werden. Dadurch erfährt auch das Nervensystem eine adäquate Anregung. Bewegung hält nicht nur körperlich fit und geschickt, sondern ruft in gesundem Ausmaß auch Wohlbefinden hervor, beugt Depressionen vor und hält den Geist rege bis ins hohe Alter.

  • b) Förderung bei Gefühlsdefiziten

Bei Gefühlsdefiziten werden ab dem Schulalter künstlerische und auch kunsttherapeutische Übungen angeboten. Großer Wert wird auf die Ausbildung des Sprachvermögens gelegt, nicht nur beim Spracherwerb als logopädische Maßnahme, sondern auch hinsichtlich des Ausdrucks von Sprache. Nur wer Sprache gut handhaben kann, fühlt sich sicher genug, andere anzusprechen oder sich selbst mitzuteilen. Sprache ist per se ein soziales Instrument, das uns als Menschen verbindet oder trennt – weit über den Informationsgehalt hinaus, den sie transportiert. Wer ein Gedicht gestalten und vortragen lernt, wer die feinen Abstufungen von laut und leise handhaben lernt, kann dadurch differenzierte Empfindungen wahrnehmen und ausdrücken und wird sensibel für Feinheiten, auch in der Wahrnehmung anderer Menschen und ihrer Intentionen. (Vgl. Gefühle und Fühlen: Gefühl und Wahrnehmung)

  • c) Förderung bei fehlender Motivation

Probleme eines zu trägen Stoffwechsels, eines lustlosen Ganges, einer unmotivierten „hängenden“ Körperhaltung können durch motivierende Einzelgespräche, gute Fragen im Unterricht und inhaltsreiche Theaterstücke angegangen werden.

Jeder kennt das Erlebnis, dass eine gute Idee fast wie ein elektrischer Schlag wirken und den Betreffenden sogar zum Aufspringen bringen kann mit den Worten: „Ich hab's, jetzt weiß ich, was ich tun muss!“. In der Schule kann man beobachten: Wenn einem Kind etwas klar wird sitzt es mit einem Mal strahlend aufrecht da und möchte zeigen, was es begriffen hat. Es ist in seinem ganzen Gebaren verändert.

Goethe formulierte diesen Zusammenhang treffend, indem er sagte: „Das Tier wird durch seine Organe belehrt, der Mensch belehrt die seinigen und beherrscht sie.“2 (Vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Zwischen Tier und Mensch unterscheiden). Die Ausreifung der Organe vollzieht sich beim Menschen nicht „von selbst“, sondern bedarf des Einflusses von Lernanregungen, durch die das Ich seinen Leib und die darin zusammenwirkenden Wesensglieder handhaben lernt (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen der Ich-Organisation).

Werden in dieser Weise Bewegung, Gefühlsleben und Sprachfähigkeit sowie das Denken über Jahre hinweg in ihrer Entwicklung unterstützt, ist bereits viel geschehen, um die seelischen Grundfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens möglichst gleichgewichtig auszubilden. (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Denken, Fühlen und Wollen und Leib, Seele und Geist). Damit wird vermieden, dass sich die Intelligenz auf Kosten der emotionalen Reifung und vor allem auf Kosten des Willens einseitig entwickelt. Denn je intelligenter ein Kind ist, desto mehr läuft es Gefahr, arrogant, überheblich, kalt, distanziert und berechnend zu werden, wenn nicht auch die seelischen und körperlichen Kompetenzen gleichermaßen entwickelt werden. Intelligenz allein ist kein Garant für Menschlichkeit, dazu braucht es auch emotionale Intelligenz und ein gesundes Körpergefühl. (vgl. Waldorfpädagogik: Hochbegabung und Waldorfpädagogik ).

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 15. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004

  1. Wolfgang Schad, Erziehung ist Kunst. Stuttgart 1994.
    Stefan Leber, Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik. Stuttgart 1994. Helmut Neuffer (Hrsg.), Zum Unterricht des Klassenlehrers an der Waldorfschule. Ein Kompendium. Stuttgart 1997.
  2. J-W. Goethe, Sprüche in Prosa. In: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Rudolf Steiner. 5. Band. Fotomechanischer Nachdruck der Erstauflage in: Deutsche National-Literatur 1883 - 1897. GA 1e. Dornach 1975. - S. 350.