Entwicklung durch Krankheit und Behinderung

Wer persönlich oder als Familie von einer Krankheit oder Behinderung betroffen ist oder sie im nächsten Umkreis erlebt, wird früher oder später die Frage nach dem Sinn dieser biografischen Herausforderung stellen. Da kann es hilfreich sein, Fragen nach dem Lerngewinn durch diese Schicksalsgegebenheit hinzuzunehmen:

Wie sehr ist man selbst und das unmittelbare soziale Umfeld wie Familie und Freunde an dieser herausfordernden Situation gewachsen?

Welche Qualitäten und Fähigkeiten haben die Betroffenen dadurch erworben?

Welche positiven Erfahrungen und Entwicklungen trotz aller Schwierigkeiten ermöglichte diese außerordentliche Situation?

Trost durch Bezug zum eigenen Schicksal

Wer sich diese und ähnliche Fragen offen und ehrlich stellt, wird Antworten finden, welche die tiefe Berechtigung von leidvollen Erfahrungen im eigenen Schicksal und auch im Leben anderer erkennen lassen (vgl. Krankheit: Grundlegendes zum Sinn von Krankheit). Diese Antworten können sich in Form von „Einfällen“ zeigen, aus der Beobachtung heraus entstehen oder sie kleiden sich sogar in Worte, die man schon oft gelesen oder gehört hat. Was auch immer sich einem dabei offenbart, wird zur Heilung und zum Seelenfrieden beitragen. Das habe ich wiederholt im Umgang mit Patienten erlebt, als sie – oft nach intensivem Ringen – erkennen konnten, dass ihre Krankheit oder Behinderung eng verflochten ist mit ihrer Entwicklungsaufgabe und möglichweise auch mit ihrem früheren Schicksal zu tun hat (vgl. Krankheit: Krankheit, Heilung und die Frage nach dem Sinn). Das davor unbewusste „Wissen“ in den Urgründen der Seele wird durch Fragen dieser Art und die sich dann einstellenden Antworten zu einer bewussten Erkenntnis, die dem Betroffenen, aber auch den Menschen in seinem Umfeld, tiefen Trost spenden kann.

Geht man davon aus, dass der Mensch sich durch mehrere Leben hindurch weiterentwickelt und dass diese Entwicklung nicht gradlinig verläuft, sondern auch „Fehler“ und Versäumnisse“, ja sogar schwere Vergehen an Leib und Leben, beinhaltet, so könnte man Krankheit und Behinderung auch als Möglichkeit auffassen, Verfehlungen und Versäumnisse aus früheren Leben wettzumachen – nicht im Sinne einer Strafe, sondern um die Entwicklung abzurunden bzw. um Einseitigkeiten auszugleichen.

Letztlich kann die Frage – Warum ich? – nur von jedem Menschen selbst beantwortet werden. Denn im Ich, in unserem innersten Wesen, liegen Ursache und Folge des Schicksals begründet. Hier schließen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen.

Heutige Schwächen werden zu zukünftigen Stärken

Wie oben bereits erwähnt können Krankheit und Behinderung ihren Sinn einzig und allein auch im Hinblick auf eine nähere oder fernere Zukunft haben.

Woher weiß ich, ob nicht gerade das, was ich heute völlig unerwartet und scheinbar grundlos erleiden muss, notwendig ist, damit ich in einem späteren Leben in einer Situation, wo alles darauf ankommt, bestehen kann?

Wer weiß, ob nicht gerade das, was ich heute völlig unerwartet und scheinbar grundlos erleiden muss, notwendig ist, damit ich morgen oder gar in einem späteren Leben in einer Situation, wo alles genau darauf ankommt, bestehen kann?

Nichts von dem, was wir in unserem Leben erringen, geht verloren, nichts ist umsonst oder dem bloßen Zufall geschuldet. Vertrauen wir in diesem Sinne auf unser Schicksal, findet jede noch so leidvolle Erfahrung ihren rechtmäßigen Platz in unserem Leben (vgl. Begabung und Behinderung: Zum Verständnis von Krankheit und Behinderung).

Zu den bewegendsten Forschungsergebnissen Rudolf Steiners auf diesem Feld gehört die Aussage, dass es kaum ein Genie und großen Wohltäter der Menschheit gibt, der nicht in einem seiner früheren Erdenleben eine Inkarnation als Mensch mit körperlicher und/oder seelischer Behinderung durchgemacht hat.

Lernt man in diesem Sinne zukunftsorientiert zu denken und zu empfinden, kann man lernen den eigenen Schwächen ganz anders zu begegnen – aus dem Wissen heraus, dass jede Schwäche, wenn sie einmal überwunden ist, zu einer Stärke wird. Jedes heute noch ungelöste Problem wird einmal, wenn es gelöst ist, zu einer Kraftquelle geworden sein, die uns helfende Worte sprechen und erlösende Taten tun lässt. Versucht man sich unter diesem Blickwinkel vorzustellen, wie Menschen in Zukunft sein werden, kann im Vertrauen darauf jetzt schon positive Kräfte freisetzen, um mit Gegenwartsproblemen konstruktiv umzugehen. Anstatt Dinge persönlich zu nehmen, anzuprangern und darüber zu entrüsten, kann man die Ereignisse und Entwicklungen unter dieser ermutigenden Zukunftsperspektive anschauen und gelassener mit bestehenden Hindernissen und Schwierigkeiten zurechtkommen.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 10. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004