Bewusstseinsseelenzeitalter – die neue Art zu denken

Entweder-Oder als vergangnes Kultur-Prinzip

Rudolf Steiner stellte schon Ende des 19. Jahrhunderts in seiner „Philosophie der Freiheit” dar, dass „Prinzipienreiterei“ nicht mehr zeitgemäß ist. In der später begründeten Anthroposophie unterschied er zwischen dem Ahrimanischen und dem Luziferischen Bösen (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Wirksamkeit von Luzifer und Ahriman)1 und verwies auf die moderne Kultur als einer Bewusstseinsseelen-Kultur. Die Kultur des Entweder-Oder, des Schwarz-Weiß, des Gut-Böse, des Ja-Nein war historisch tief berechtigt in der vorigen Kulturepoche, dem Zeitalter der Verstandes- und Gemütsseele. Warum? Weil sich an der Dialektik von Ja und Nein, von Richtig und Falsch das Denken schult und Menschen, die es brauchen, klare Leitlinien und Verhaltensregeln bekommen. Einer stellte eine These auf, der andere behauptete das Gegenteil. Und dann wurde darüber disputiert, d.h. mit Worten gestritten, und zwar solange, bis sich schließlich als Ergebnis die Wahrheit ergab, die für alle galt. Entsprechend hat man zu dieser Zeit auch noch Menschen, die im Sinne dieser Scholastik falsch dachten, verbrannt. Das Falsche, das Böse musste eliminiert werden.

Gegenpole gleichzeitig im Bewusstsein halten

Mit der Bewusstseinsseelenzeit kam eine völlig neue Art zu denken auf und damit auch eine neue Art von Dialektik. Sie wurde von dem Philosophen Hegel (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Das Geheimnis des Bösen im Spiegel der Apokalypse) so entwickelt, dass er sagte: Das ganze Denken beruht auf Gegensätzen; ich verstehe nichts von der Welt, wenn ich nicht in Gegensätzen denke. Man kann das leicht überprüfen. Wenn man z.B. versucht, „klein” zu denken, so kann man das nicht, wenn man nicht zum Vergleich „groß” daneben stellt. Man kann überhaupt nichts denkend voll erfassen, ohne zugleich den Gegensatz des Gedachten mitzudenken. Damit ist aber der Prozess noch nicht abgeschlossen. Hegel baut den Gegensatz auf von „Sein” und „Nichts”. Und dann entdeckt er – und das ist jetzt ganz Bewusstseinsseelenqualität – das „Sowohl-als-auch“: Zwischen „Sein” und „Nichts” vermittelt ein Drittes, das „Vergehen”. Und umgekehrt: Zwischen dem „Nichts” und dem „Sein” vermittelt das „Werden”. Und nun kommt der entscheidende Gedanke: „Werden” und „Vergehen” sind die wahren Wirklichkeiten. Reines „Sein” und komplettes „Nichts” gibt es nirgendwo in der sichtbaren Welt; alles in der sichtbaren Welt ist entweder im Werden oder im Vergehen begriffen und enthält immer etwas vom „Sein” und vom „Nichts”. Deshalb regt Rudolf Steiner in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?”2 als erste Übung an, über das „Werden” und das „Vergehen” zu meditieren. Sie sind das Tor zum Leben und zum Sterben. Wir verstehen nichts im Leben, wenn wir nicht immer beide beachten. Die Bewusstseinsseelenkultur hat ein Bewusstsein von der wahren Lebenswirklichkeit, die alles umfasst, was IST.

Aushalten von Gegensätzlichem und Unvollkommenem

Das zu verstehen und auszuhalten, erfordert eine gewisse menschliche Reife und ein starkes Selbstbewusstsein. Ist es doch schwer auszuhalten, dass es nirgendwo im Leben die reine Wahrheit und das ganz und gar Falsche gibt. Wer „Falsch” und „Richtig” zu kennen glaubt, fühlt sich in sich selbst bestätigt. Wer auf diese Festlegung verzichtet, fühlt sich möglicherweise verunsichert und dem Irrtum ausgesetzt. Doch ist, wie Hegel es einmal ausdrückte, „die Furcht zu irren schon der Irrtum”.

Es ist nicht weiter schlimm, dass nichts im Leben vollkommen ist. Das muss sogar so sein, sonst bräuchten wir keine weitere Entwicklung mehr. Wer die Vollkommenheit, die sich uns in den Idealen offenbart, unbedingt auf Erden verwirklicht sehen will, läuft Gefahr, sich in Richtung Fanatismus und Realitätsverlust zu bewegen. Das entspricht der moralisierenden Gesinnung Luzifers, der sich richtend und urteilend über das Leben erhebt, der immer zu wissen meint, wie etwas zu sein hat.

Wenn man andererseits immer nur die Widersprüche sieht und das zum Anlass nimmt, alle Prinzipien über Bord zu werfen im Sinne von „Es ist ja doch alles relativ”, ist von Ahriman beeinflusst und läuft Gefahr, der Beliebigkeit, der Haltlosigkeit, der Resignation bis hin zu kalter Gleichgültigkeit zu verfallen. Der Widerspruch ist dem Leben zwar immanent, wer aber nur noch darauf schaut, sieht nichts als ein heilloses Chaos ohne Sinn und Zusammenhang. Auch das ist eine Form von Realitätsverlust (vgl. Das Böse – Widersachermächte: Das Geheimnis des Bösen im Spiegel der Apokalypse).

Was uns hier hilft, ist die christliche Ausgleichskraft der Liebe zum Leben, die uns die Mitte finden lässt zwischen urteilender Moral und chaotischer Beliebigkeit (vgl. Christus heute: Christuswahrnehmung und luziferische und ahrimanische Täuschung). Sie zu erringen ist Aufgabe des Menschen im Bewusstseinsseelenzeitalter.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2, Verlag am Goetheanum, Dornach

  1. Rudolf Steiner, Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis, GA 191; Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik, GA 11.
  2. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?. GA 10.