Wahrheit als Wirklichkeit in der Beziehung

Wie wirkt sich der Umgang mit Wahrheit bzw. Unwahrheit in Beziehungen aus?

Die Qualität jeder menschlichen Beziehung ist von der Pflege der drei Kernideale für die menschliche Entwicklung – Wahrheit, Liebe, Freiheit – abhängig (vgl. Ideale: Die Ur-Ideale – Wahrheit, Liebe und Freiheit). Dabei kommt der Wahrheitsfrage eine besondere Stellung zu, denn mit ihr hängt auch die Gesundheit jeder Beziehung zusammen. Das Ringen um Wahrheit ist immer auch ein Ringen um geistige und soziale Gesundheit.

Bei der Frage nach der Wahrheit ist es entscheidend, welchen Bezug zur Wirklichkeit wir haben und was wir mit Hilfe des als wahr Erkannten schaffen bzw. verwirklichen wollen. Der Bezug zur Wirklichkeit erstreckt sich jedoch nicht nur auf Tatsachen der Sinneswelt.

Die Wahrheit über Christkind und Osterhase

Wie verhält es sich mit Begriffen wie „Christkind“ und „Osterhase“?

Lügen wir die Kinder damit an, um ihnen die Spannung und Freude am Fest zu erhöhen?

Oder anders gefragt:

Welcher Realität entsprechen das „Christkind“ und der „Osterhase“?

Wer Kindern vom Christkind oder vom Osterhasen erzählt und dabei so tut, als wären sie Realität, selbst aber mit dieser Vorstellung nichts „Wirkliches“ verbindet, macht den Kindern etwas vor. Wer jedoch das Beschenkt-Werden seitens der Natur, die uns die Möglichkeit zur Entwicklung gibt, in das Bild des Hasen kleidet, der die Ostereier bringt, als Symbol des Werdens und der Entwicklung, versucht mit diesem Wahrbild seinen Kindern eine Wahrheit zu vermitteln: Ostern ist, wenn wir es ernsthaft feiern, für uns Erwachsene ein Erlebnis von Tod und Auferstehung, von Wandlung durch Entwicklung.

Der Erwachsene kann den Kraftzuwachs empfinden, der durch die Nähe und Anwesenheit des Auferstandenen gegeben ist. Das können Kinder nicht direkt erleben. Was es jedoch bedeutet, von einer neuen Kraft beseelt und gestärkt zu werden, können sie dadurch mitempfinden, dass sie bei diesem Fest wohlschmeckende Süßigkeiten bzw. Ostereier suchen dürfen. Sie erleben am sinnlichen Genuss und am physischen Wohlgefühl Stärkung, Freude und Kraft und werden still, wenn sie die andächtige Stimmung der Erwachsenen miterleben. So erfahren sie auf ihre Art mehr äußerlich, was der Erwachsene durch innere Arbeit auf seelisch-geistiger Ebene erfahren kann.

Je kleiner Kinder sind, umso mehr erleben sie noch alles über die Sinne, den Leib. Das vom Körper sich zunehmend emanzipierende Seelen- und Geistesleben ist noch nicht voll entwickelt. Daher ist es richtig, geistige Realitäten für die Kinder zu „versinnlichen“ und physisch-körperlich erlebbar zu machen. Die Erwachsenen dürfen jedoch die geistige Wirklichkeit, die in und hinter diesen physischen Realitäten lebt, nicht vernachlässigen, sonst wird das Feiern des Festes zu etwas Unwahrem und damit hohl und oberflächlich.

Wenn die Kinder eines Tages entdecken, dass sich hinter dem Osterhasen oder dem Weihnachtsmann die Eltern verborgen haben, ist es wichtig, diese Entdeckung wahrheitsgemäß zu kommentieren. Sind die Kinder noch im Vorschulalter oder ersten Schulalter und haben es nur von anderen gehört, und man spürt, wie die Hoffnung in ihnen lebt, doch noch einmal bestätigt zu bekommen, dass es den Osterhasen wirklich gibt, kann man ruhig sagen: „Weißt du, bei uns kommt er eben noch, weil wir so fest an ihn glauben und uns auf ihn freuen.“ Ist ein Kind in seinen eigenen Überlegungen schon so weit gekommen, dass es die „Wahrheit“ von den Eltern wissen möchte und damit auch vorbereitet ist, sie zu verarbeiten, kann man dem Kind in einem besonders schönen Gespräch erklären, dass geistige Realitäten und Werte Menschen als Vermittler brauchen, um in der Welt wirksam sein zu können.

Wahrheit als Verhältnis zur Wirklichkeit begriffen

Dieses Beispiel kann deutlich machen, dass Wahrheit in diesem Zusammenhang nicht nur etwas absolut „Richtiges“, „So-Seiendes“, „Gegebenes“ ist, sondern unser jeweiliges Verhältnis zur Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. Wir lernen, „in der Wahrheit“ zu leben, wenn wir uns unausgesetzt bemühen, die Welt der Erscheinungen, der Sinneswelt, zu der Welt unserer Vorstellungen und Gedanken in ein den Tatsachen entsprechendes Verhältnis zu setzen. Dadurch arbeiten wir selbst mit an der Wahrheit der Welt1. Ohne diese Mitarbeit des Menschen bliebe sie unvollständig. Wer sich auf Wahrheiten beruft, ohne sie zu „erleben“ und ihre Verwirklichung zu erstreben, ist – so gesehen – bereits auf dem Weg zu lügen, so paradox das auch klingen mag.

Persönliche Verantwortung gegenüber dem, was man denkt und für wahr hält, wird meist erst im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren erlebt (vgl. Denken: Entwicklung der Organsysteme und Denken). Besonders schön und prägnant hat dies Jacques Lusseyran in seiner Autobiographie beschrieben. Er fasste mit seinem Freund, beide 16jährig, eines Tages den Entschluss: „Wir hatten geschworen, uns die Wahrheit zu sagen, die reine Wahrheit, und wenn wir das nicht können, zu schweigen.“ 2 Dann beschreibt Lusseyran, wie er mit seinem Freund oft stundenlang in Paris spazieren ging – und beide schwiegen. Hin und wieder blickten sie sich mit einem wissenden Lächeln an, um dann wieder wegzuschauen. Keiner von beiden wagte es, unmittelbar etwas zu sagen, obwohl sie sonst stundenlang diskutierten. Das Schweigen machte ihnen bewusst, wie wenig sie genau genommen wirklich wussten. Während sie äußerlich schwiegen, arbeitete es im Inneren „auf Hochtouren“. Die Frage nach der Wahrheit verband sie und bewirkte eine beglückende Vertiefung ihrer Freundschaft.

Diese Begebenheit kann deutlich machen, in welchem Maß Wahrheit und Lüge die menschlichen Beziehungen mitgestalten. Sie sind nicht nur Qualitäten für sich, sie sind darüber hinaus ein wesentlicher Teil dessen, was Menschen verbindet oder trennt. Sie sind Realitäten, die zwischen Menschen Mauern aufrichten und auch wieder einreißen, die verletzen und heilen können. Es gibt wohl kaum etwas in einer menschlichen Beziehung, was sich als trennender und schmerzhafter erweist als der Eindruck, dass der andere nicht aufrichtig zu einem ist.

So drückt das Vorhaben von Jacques Lusseyran und seinem Freund, sich nur noch die Wahrheit zu sagen, gleichzeitig den Wunsch aus, eine ganz ehrliche, reine Beziehung von Ich zu Ich zu pflegen und in die zwischenmenschliche Begegnung nichts Fremdes mehr hereinzulassen. Wer sich der Wahrheit verpflichtet, wird in seinem ganzen Verhalten „wesentlicher“.

Wahrheit und eigenes Wesen

Was bedeutet letztlich das Ringen um Wahrheit?

In dem Augenblick, in dem wir an uns selbst die Wahrheitsfrage stellen, beginnt ein energisches inneres Fragen, Suchen, Prüfen und Abwägen. Wer also beim Grüßen „guten Morgen“ sagt, müsste in sich in diesem Moment auch den Bezug zur Realität eines „guten Morgens“ herstellen und etwas von dessen Reinheit, Frische und Kraft empfinden. Dadurch, dass wir uns bemühen, die Wahrheit zu denken und zu sagen, rufen wir unsere Seele zu höchster Geistesgegenwart auf, zur Anwesenheit unseres Ich. Denn ohne die geistesgegenwärtige Anwesenheit des Ich kann beim Denken und Sprechen nicht der innere Bezug zu dem, worüber gedacht und gesprochen wird, hergestellt werden. Auf diesen Bezug zur Wirklichkeit, zur Realität des Gedachten und Gesagten, kommt es jedoch bei der Wahrheitsfrage ganz entschieden an: Wahrheit stellt Beziehung her, ist Begegnung, Innewerden, Verbunden-Sein. Und so verbindet sie auch Menschen miteinander und ermöglicht spirituelle Kommunion. Unwahrheit hingegen trennt und lässt einen Abgrund zwischen den Menschen entstehen – aber auch gegenüber der geistigen Welt.

Solche Einsichten helfen, ganz neue Maßstäbe für die Pflege menschlicher Beziehungen anzulegen, lassen aber auch erkennen, dass das eigene Wesen seiner Natur nach „wahr“ ist.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 4. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Vgl. Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft. GA 3.
  2. Jacques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht, Stuttgart 1966.