Rückschau auf das eigene Leben

Wer sich zu erinnern versucht, wie er aufgewachsen ist und wodurch die Atmosphäre im Elternhaus geprägt war, trifft auf bestimmte Stimmungen: Geborgenheit, Wärme, Helligkeit, Fröhlichkeit oder aber Gleichgültigkeit, Hetze, Stress, Angst, Missmut, Sorge, Unzufriedenheit. Hinzu kommen die Gefühle und Erlebnisse, die die persönlichen Beziehungen zu den Eltern und Geschwistern bestimmt haben, z.B. Ablehnung, Bevorzugung, liebevolle Annahme, Hass, Nicht-leiden-Können, Sich-übergangen-Fühlen, Sich-ungerecht-behandelt-Fühlen, Sich-unverstanden-Fühlen oder Sich-überflüssig-Erleben. Die Entwicklungspsychologin Judy Dunn und der Verhaltensgenetiker Robert Plomin schreiben in ihrem Buch „Warum Geschwister so verschieden sind“ (vgl. Biographiearbeit: Zufall und Schicksal):

Der begrenzte Einfluss der Umwelt auf die kindliche Entwicklung

„Geschwister, die in derselben Familie aufwachsen, sind sehr verschieden. Auf einem so komplexen Gebiet wie den Verhaltenswissenschaften kommt es selten vor, dass sich so klare und konsistente Belege für einen Befund finden, der unser Denken über ein so grundlegendes Thema wie den Einfluss der Familie auf die Entwicklung radikal verändert. Wie oft sind wir davon ausgegangen - sei es als Eltern, Therapeuten, Psychologen -, dass die wesentlichen Einflüsse auf die kindliche Entwicklung von den Kindern in ähnlicher Weise erlebt werden: die Persönlichkeiten der Eltern und die Erfahrungen der Kindheit, die Qualität der elterlichen Ehe, die Ausbildung der Kinder, die Nachbarschaft, in der sie aufwachsen, die Einstellung der Eltern zur Schule oder zu erzieherischen Maßnahmen. Das ist eine lange Liste, aber alle aufgezählten Faktoren scheinen auf jedes einzelne Kind innerhalb einer Familie zu wirken. Doch in dem Maße, wie diese Faktoren gemeinsam wirken, können sie für die Unterschiede, die wir im Ergebnis der kindlichen Entwicklung sehen, nicht verantwortlich sein. Und diese Entdeckung zeigt uns nicht nur, was an unseren bisherigen Erklärungsansätzen zur kindlichen Entwicklung falsch ist, sondern weist uns auch in die richtige Richtung: Wir müssen herausfinden, welche Umweltfaktoren zwei in derselben Familie aufwachsende Kinder voneinander verschieden machen. Dies ist der Schlüssel zum Verständnis des Einflusses der Umwelt auf die kindliche Entwicklung allgemein, nicht nur auf die von Geschwistern ...“1

Jede/r bestimmt selbst, wer sie/er sein möchte

Die bemerkenswerte Botschaft dieses Buches ist, dass der Mensch nicht nur abhängig ist von Vererbung und Milieu, sondern vor allem von sich selbst, wie er mit den vererbten Eigenschaften und Möglichkeiten und seinen Umweltfaktoren umgeht (vgl. Begabung und Behinderung: Wer spielt das Klavier der Gene?). Simone de Beauvoir schreibt in ihren Memoiren über ihre kleine Schwester Poupette Folgendes:

„Auf den zweiten Platz verwiesen, musste sich die Kleine fast überflüssig fühlen. Ich war für meine Eltern ein neues Erlebnis gewesen; meine Schwester hatte weit größere Mühe, sie in Staunen zu setzen oder sie aus der Fassung zu bringen; mich hatte man noch mit niemandem verglichen, sie aber verglich ein jeder mit mir [...] Was Poupette auch tat, der Abstand der Zeit, die Sublimierung durch die Legende wollte, dass mir alles besser geglückt war als ihr; kein Bemühen, kein Erfolg verhalfen ihr jemals dazu, sich gegen mich durchzusetzen. Als Opfer eines ungreifbaren Fluches lebte sie und saß abends oft weinend auf ihrem Stühlchen. Man warf ihr ihr mürrisches Wesen vor: Es entstammte einzig und allein ihrem Minderwertigkeitsgefühl.“ 2

Zum Vergleich ein Beispiel aus Mark Twains Autobiographie: „Meine Mutter hatte ziemlich viel Ärger mit mir, aber ich glaube, sie genoss es. Sie hatte nie Ärger mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder Henri, und ich nehme an, dass ihr seine stets gleichbleibende Bravheit, Ehrlichkeit und Folgsamkeit zur Last geworden wäre, hätte ich ihr nicht mit dem Gegenteil Erleichterung und Abwechslung verschafft [...] Ich habe nie erlebt, dass Henri sich mir oder anderen gegenüber boshaft verhielt. Aber dass er stets das Richtige tat, ist mir schlecht bekommen. Es war seine Aufgabe, meine Sünden zu berichten, wenn es nötig war, und er nahm seine Aufgabe sehr ernst. Er ist Sid in Tom Sawyer. Aber Sid war nicht Henri. Henri war ein viel besserer Junge, als Sid jemals gewesen ist.“ 3

Die Beispiele zeigen jeweils zwei Kinder im Abstand von zwei Jahren, wobei es bei dem jungen Tom keinerlei Minderwertigkeitsgefühle erzeugt, zurückgesetzt und mit dem idealen Bruder Henri verglichen zu werden, sondern vielmehr das Bewusstsein seiner eigenen Persönlichkeit und Andersartigkeit verstärkt und er in dieser Auseinandersetzung für sein späteres Leben gewinnt. Es sind also nicht die Faktoren „Annahme“ oder „Ablehnung“ durch die Eltern allein, die sich auf das Verhalten des Kindes positiv oder deprimierend auswirken, sondern es spielt immer auch ganz entscheidend mit, wie das Kind selbst die Art der Annahme und der Ablehnung erlebt und wie es aufgrund seiner eigenen Veranlagung damit umgeht bzw. umgehen lernt und was es für sein späteres Leben daraus macht.

Konstruktiver Umgang mit Kindheitserlebnissen

Ähnlich ist es mit den zu Hause erlebten Stimmungen. Je bewusster man sie erlebt hat, umso leichter wird es einem auch, sich davon zu distanzieren und den Versuch zu machen, ihnen auszuweichen, sich zu wehren oder auch daran zu arbeiten, indem man sich seine eigene Welt aufbaut und sich dort wohl fühlen lernt. 4 Es gilt dies auch für das spätere Leben. Viele Menschen übergehen die Ereignisse ihrer Kindheit, können sich nur an wenig erinnern, bezeichnen sie sogar vielleicht als „gut“ oder „harmonisch“ und haben völlig verdrängt, was sie an Demütigungen, Ungerechtigkeit und Vernachlässigung erleben mussten. Sie verstehen im späteren Leben dann auch nicht, warum sie die Neigung haben (und dass sie sie haben), andere Menschen zu demütigen und zu vernachlässigen.

„Eine als Kind sexuell ausgebeutete Frau, die ihre kindliche Realität verleugnet und gelernt hat, Schmerzen nicht zu fühlen, ist ständig auf der Flucht vor bereits Geschehenem – mit Hilfe von Männern, Alkohol, Drogen oder Leistung-Erbringen. Sie braucht den ständigen Kick, um nur ja nicht die Langeweile aufkommen zu lassen, ja nicht eine Sekunde der Ruhe zuzulassen, in der die brennende Einsamkeit ihrer kindlichen Wirklichkeit spürbar wäre, weil sie dieses Gefühl mehr als den Tod fürchtet – es sei denn, sie hatte das Glück zu lernen, dass das Aufleben und Bewusstwerden der kindlichen Gefühle nicht tötet, sondern befreit.“ 5

Es gibt immer diese beiden Möglichkeiten: die des Negativ-geprägt-Werdens durch destruktive Einflüsse im Kindesalter mit entsprechenden Folgen für späteres aggressives oder destruktives Verhalten und daneben die andere Möglichkeit, sei es aus eigenem Antrieb oder unter professioneller Anleitung, die eigene Biographie anzuschauen, zu bearbeiten und daran aufzuwachen für das, was man selber möchte.

Umgang mit „schlechten“ Erfahrungen

Vieles im späteren Leben ist Anlass, sich zurückzuerinnern und sich Erlebnisse aus der eigenen Kindheit und Jugend bewusst zu machen. Das kann bei der Lektüre von Romanen geschehen, im Gespräch mit Menschen, die etwas aus Kindheit oder Jugend berichten. Nun hängt alles davon ab, ob man bereit ist, die eigene Kindheit so zu sehen, wie sie wirklich war. Wenn wir uns unsere Vergangenheit bewusst machen, können wir uns ihr gegenüberstellen, können sie objektiver und vor allem distanziert betrachten. Das gibt uns die Freiheit, eine neue Einstellung unseren Erfahrungen gegenüber zu gewinnen und von ihnen zu lernen (vgl. Biographiearbeit: Der Mensch als sich entwickelnde Wahrheit). Die Arbeit an der eigenen Vergangenheit gibt uns die Möglichkeit, daraus Gewinn für die weitere Entwicklung zu ziehen. Hat man im Elternhaus eine gleichgültige Atmosphäre erlebt oder sich nicht geliebt gefühlt, so kann man sich vornehmen, mit seinen Kindern anders umzugehen.

Auf diese Weise können gerade auch die „schlechten“ Erfahrungen in der eigenen Kindheit dazu führen, dass man als Erwachsener später aus solchen Erlebnissen die pädagogische Kraft schöpft, zu geben, was einem selbst einmal gefehlt hat: Menschen, die sich bewusst sind, dass sie von bestimmten Verhaltensweisen wie Strenge, Gleichgültigkeit oder Ungerechtigkeit in ihrer Kindheit geängstigt, gedemütigt oder geärgert wurden, gehen oft ganz anders mit ihren Kindern um.

Es gibt aber auch das Gegenteil, dass anstelle der bewussten Verarbeitung ein unbewusstes Sich-Rächen eintritt. Man empfindet dann Genugtuung dabei, seinen eigenen Kindern und dem Partner genau das anzutun, was man selber erdulden musste – bis dahin, dass man Lust an der Machtausübung über andere entwickelt. Und so werden viele Opfer zu Tätern. 6 Es hängt jedoch in hohem Maß vom eigenen Selbstbewusstsein ab, wie man später mit letztlich „schlechten“ Erfahrungen umgeht (vgl. Selbstbewusstsein: Was das Selbstbewusstsein prägt).

These und Antithese

Hegel entdeckte, dass jede These und jedes Gesetz ein ihm polares, eine Antithese, hervorruft. Die Urpolarität der Welt liegt demnach „im Sein“ und im „Nicht-Sein“. Ohne den Seins-Begriff können wir das „Nichts“, als Abwesenheit von „Sein“, nicht denken und ohne den Begriff des „Nichts“ wüssten wir nicht, was „Sein“ ist. Jedes braucht den Gegensatz, um sich selbst im Bewusstsein geltend machen zu können. Zwischen diesen Gegensätzen aber liegen jene Qualitäten, die unsere Lebenswirklichkeit ausmachen. Denn der Mensch lebt weder im „Sein“ noch im „Nichts“. Die Welt des Menschen ist vielmehr der Weg vom „Sein“ in das „Nichts“ und umgekehrt, der Weg vom „Nichts“ ins „Sein“: Alles Leben auf der Erde bewegt sich zwischen Werden und Vergehen – das ist die irdische Realität. In der sinnlichen Wirklichkeit erscheinen und verschwinden die Dinge. So ist mit dieser Polarität von „Sein“ und „Nichts“ auch auf die große Weltpolarität von Geist und Materie hingedeutet. Dabei gilt für den Materialisten die Materie als der Bereich des „Seins“, die Welt des Geistes hingegen als Bereich des „Nichts“. Umgekehrt bezeichnet der spirituelle Mensch das Geistige als das eigentliche Sein und das Materielle als Maja, als Schein, als Nichts.

Für den Blick in die Vergangenheit ist es nun entscheidend, dass man nicht bei der Geburt stehenbleibt (egal, ob man sie als Sein oder Nichts bezeichnet), sondern weiterdenken kann zu einem vorgeburtlichen Leben und einem davor liegenden früheren Erdenleben (egal, ob man sie als Sein oder Nichts bezeichnet). Erst wenn man sein vorgeburtliches Leben auch als Folge eines nachtodlichen und beides wiederum als Folge eines früheren Erdenlebens anzusehen lernt, zeigen die eigene Kindheit und Jugend, wie sie – gerade so, wie sie waren – zu einem gehören (vgl. Nachtodliches und vorgeburtliches Leben: Zwischen Tod und neuer Geburt). Dann sucht man die Ursachen für seine persönlichen Probleme in erster Linie in der eigenen Vergangenheit, bei sich selbst, und macht nicht primär die Umstände und Personen der Kindheit dafür verantwortlich. Probleme werden so zu Anlässen, sich bewusst zu machen, was es zu lernen gilt.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Judy Dunn; Robert Plomin: Warum Geschwister so verschieden sind. Stuttgart 1996, S. 81 f.
  2. Simone de Beauvoir, Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, Reinbek 1960, S. 42, zitiert nach Dunn/Plomin.
  3. Mark Twain, Gesammelte Werke Band 5, zitiert nach Dunn/Plomin.
  4. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, Kapitel „Die Bedingungen zur Geheimschulung“ (Ausgabe Zürich 1974, S. 91 f.)
  5. Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, S. 13.
  6. Gerade in jüngster Zeit ist eine zunehmende Sensibilisierung des öffentlichen Bewusstseins für dieses Thema festzustellen. Dabei wurde der Zusammenhang von früher am eigenen Leib erlebtem Machtmissbrauch und späterer krankhafter Praktizierung desselben, bis hin zu Kindesmissbrauch und Mord, immer evidenter; vgl. auch: Mathias Wais/Ingrid Gallé, Der ganz alltägliche Missbrauch, Stuttgart 1996; Peter Petersen,/J. Rosenhag, Dieser kleine Funken Hoffnung, Stuttgart 1993; neueste Aufl. 2008.