Was anthroposophische Biografiearbeit vermag

Für wen ist Biografiearbeit primär gedacht?

Wodurch unterscheidet sich Biografiearbeit von Psycho- oder Traumatherapie?

Möglichkeiten und Grenzen von Biografiearbeit

Die anthroposophische Biografiearbeit ist vor allem für den gesunden Menschen gedacht, der sich selbst und seine Biografie besser verstehen lernen will (vgl. Biographiearbeit: Biographiearbeit als Weg zu Christus). Anlass dafür kann eine Lebenskrise oder eine Rekonvaleszenzzeit nach einer schweren Krankheit sein. Oder man wurde pensioniert und hat jetzt das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen und aus dieser neuen Perspektive nach dem Sinn des eigenen Lebens zu fragen. Nicht selten sind auch konfliktreiche Beziehungen und sich wiederholende Erfahrungen und Muster der Grund, weshalb man sich ein besseres Selbstmanagement wünscht. Grundvoraussetzung für Biografiearbeit ist in jedem Fall die Fähigkeit der Selbststeuerung seitens der Klient:innen.

Ist die Selbststeuerung krankheitsbedingt durch das Vorliegen einer Depression, einer Borderline-Problematik oder einer anderen sogenannten Persönlichkeitsstörung eingeschränkt, sollte Biografiearbeit nur in enger Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt/Ärztin bzw. Psychotherapeut:in stattfinden bzw. abgebrochen werden, sobald man Anzeichen mangelnder Selbststeuerungsfähigkeit wahrnimmt. Denn durch Biografiearbeit werden nicht nur die einzelnen Phasen der Biografie und der verschiedenen menschlichen Beziehungen und schicksalhaften Begebenheiten bearbeitet. Es können auch traumatische Ereignisse erstmals bewusstwerden und eine akute psychische oder auch psychotische Krise auslösen.

Grundsätzlich gilt, dass Biografiearbeit eine professionelle Traumatherapie bzw. Psychotherapie nicht ersetzen kann, wohl aber – in Absprache mit den für die Behandlung verantwortlichen Fachleuten – sinnvoll zu ergänzen vermag. Um diesbezüglich ein gutes Unterscheidungsvermögen zu entwickeln, wäre es hilfreich an entsprechenden Weiterbildungen teilzunehmen oder zusätzlich eine Heilpraktiker-Ausbildung zu machen.

Biografiearbeit als Ergänzung von Therapien

Aufgabe der Biografiearbeit ist es, herauszuarbeiten, welche Botschaft eine Krankheit für den Betroffenen hat und wie sie sich sinnstiftend in das Ganze der biografischen Entwicklung integrieren lässt. Hier liegt auch der grundlegende Unterschied zur Psychotherapie bzw. zur Pastoralmedizin. Beide erfordern eine gediegene diagnostische und therapeutische Ausbildung, in der tiefere biografische Fragen eine Rolle spielen können, aber nicht müssen. Daher wird gerade Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen, Pastoralmediziner:innen, Kunsttherapeut:innen und auch allen anderen in Heilberufen Tätigen sehr empfohlen, berufsbegleitend eine Weiterbildung in Biografiearbeit vorzunehmen (vgl. Biographiearbeit: Medizinische Weiterbildung für Biographiearbeiter). Denn Biografiearbeit ist ein wertvolles Instrument im Fachbereich der Medizin, so wie sie auch die Berufstätigkeit von Lehrer:innen, Sozialarbeiter:nnen, in der Pflege Tätigen – insbesondere auch in Senioreneinrichtungen – bereichern und ergänzen kann.

Wer Biografiearbeit ohne eine soziale, pädagogische oder therapeutische Grundausbildung ausübt, wendet sich primär an gesunde Menschen oder arbeitet mit Fachleuten zusammen, welche die Klient:innen überweisen, oder von den Biografiearbeiter:innen bei Bedarf konsultiert werden können. Indem die Biografiearbeit in den Gesamttherapieplan integriert wird, können Biografiearbeiter:innen Ärzt:Innen und psychotherapeutisch Tätige zeitlich entlasten.

Sinnvolle Zusammenarbeit mit therapeutischen Berufsgruppen

Wie kann die Zusammenarbeit zwischen Biografieberater:innen und Ärzt:innen sinnvoll gestaltet werden?

Grundsätzlich gilt für Ärzt:innen, Therapeut:innen, Heilpraktiker:innen, Biografiearbeiter:innen, die sich an einem bestimmten Ort niederlassen und eine Praxis eröffnen, dass sie sich einen Überblick verschaffen über die medizinische, therapeutische sowie pflegerische Versorgung im eigenen Einzugsgebiet:

  • Welche Fachleute empfohlen werden können,
  • wer für welches Gebiet empfehlenswert ist,
  • welche Fachbereiche und Kompetenzen zur Verfügung stehen oder auch nicht.

In diesem Kontext haben Biografiearbeiter:innen evenuell auch die Möglichkeit, einen Flyer zu versenden und darin ihren Beitrag zur Therapie zu beschreiben. In einer Begleitmail oder Brief kann auch die Bitte um ein kurzes Vorstellungsgespräch geäußert werden. Dieses Vorgehen ist unter Ärzt:innen und Therapeut:innen, die sich niederlassen, durchaus üblich.

Es ist aber auch für die ortsansässigen Patient:innen und Klient:innen angenehm, wenn die sie behandelnden Fachkräfte einander kennen und ggf. auch positiv übereinander sprechen. Weitere Kontakte entstehen dadurch, dass im Rahmen der biographischen Arbeit auch der behandelnde Arzt/Ärztin oder Therapeut:in genannt wird. Bei Bedarf kann man auch direkt bitten, : mit dem behandelnden Arzt sprechen zu dürfen. In der Regel wird das gern gesehen, weil die Klient:innen sich davon eine weitere Klärung oder Unterstützung für ihre Situation versprechen.

Da Biografiearbeiter:Innen in der Regel über keine medizinisch-therapeutische Fachausbildung verfügen, ist es wichtig, auf diese Weise die Kompetenzbereiche und Arbeitsweisen dieser Fachbereiche kennen zu lernen. Zum einen kann man dann in der eigenen Beratung auch zu der einen oder anderen Therapie oder einem Arztbesuch raten. Zum anderen lernt man die Grenzen des eigenen Kompetenzbereichs besser einschätzen und wahren. Daraus können hilfreiche Formen der Zusammenarbeit entstehen.

Welcher Arzt ist nicht froh, eine zeitaufwendige biographische Beratung delegieren zu können?

Welche Biografiearbeiter:innen sind nicht dankbar, wenn sie ihren Klienten wegen einer bestimmten Frage zu einer Fachkonsultation schicken können?

Sich aktiv mit anderen vernetzen

Da Biografiearbeit ein neues Berufsbild ist und nicht auf einer primär medizinischen Ausbildung beruht, sondern auf der Anthroposophischen Menschenkunde und Schicksalserkenntnis, wird es möglicherweise anfangs nicht leicht sein Ärzt:innen, Psycholog:innen, Therapeut:innen ,Pädagog:innen und Sozialarbeiter:innen oder Seelsorger:innen von der eigenen Kompetenz bzw. vom Wert der Arbeit an der Biografie zu überzeugen. Man muss aktiv auf sie zugehen, Veranstaltungen besuchen, selber welche organisieren. Man muss Gelegenheiten zur Begegnung wahrnehmen, aber auch selber Veranstaltungen anbieten, bei denen die Anliegen und Möglichkeiten der Anthroposophischen Biografiearbeit angesprochen werden. Sie birgt ein großes Zukunftspotenzial, weil sie den Menschen hilft, im besten Sinne des Wortes „zu sich“ zu kommen (vgl. Biographiearbeit: Die zweite Geburt in der Biografie).

Die moderne Salutogenese- und Resilienzforschung hat vielfach gezeigt, dass in sich ruhende, lebenbejahende Menschen gesünder und widerstandsfähiger sind als andere (vgl. Gesundheit: Seelische Gesundheit erringen). Diese Tatsache wird auch durch im Laufe der Biografiearbeit bestätigt. Auch wenn sie keine therapeutische Intervention ist, so hat sie doch eine gesunde stabilisierende Wirkung auf die Menschen, weil sie ihnen hilft, die eigene Biografie als Entwicklungsweg zu erkennen (vgl. Entwicklung: Entwicklungsgedanke und Wiederverkörperung).

Pflichtlektüre für Biografiearbeiter:innen

Rudolf Steiner spricht von diesem Weg in seinem grundlegenden Buch zur Selbstschulung „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“1 und nennt ihn den Weg der Einweihung durch das Leben. Dieses Buch wie auch die Theosophie und die vier Mysteriendramen von Rudolf Steiner sind Pflichtlektüre in jeder Ausbildung zur Biografiearbeiter:in.

In den Mysteriendramen werden die biografischen Entwicklungen der Protagonisten in drei verschiedenen Inkarnationen dargestellt (vgl. Schicksal und Karma: Schicksalskunst im Lichte der Mysteriendramen). Das Studium dieser Dramen ist daher zugleich auch eine Schulung in konkreter Schicksalserkenntnis, wie sie für die Biografiearbeit nötig ist. Die Kenntnis dieser drei Werke bietet auch eine gute Gesprächsbasis bei der Zusammenarbeit mit anthroposophisch tätigen Ärzt:innen und Therapeut:innen, sowie Priester:innen der Christengemeinschaft.

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021

  1. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.