Anthroposophische Medizin – ein integrativmedizinischer Ansatz

Was unterscheidet integrativmedizinische Ansätze von der vorherrschenden Schulmedizin?

Welchen Beitrag könnte er leisten, um das Gesundheitswesen menschlicher zu machen?

Gesundheit und Demokratie gemeinsam stärken

Die Anthroposophische Medizin wurde von dem österreichischen Philosophen Rudolf Steiner (1861 – 1925) und der holländischen Ärztin Ita Wegman (1876 – 1943) 1920 in Dornach/Schweiz begründet.1 Sie feiert im Jahr der Corona-Pandemie ihren 100. Geburtstag. Dabei ist interessant, dass Steiner in seinem Begründungskurs von 20 Vorträgen in der Osterzeit 19202 nicht nur auf die damals noch virulente Spanische Grippe eingeht und das einseitige Ansteckungsmodell zum Verständnis von Infektionskrankheiten kritisch beleuchtet. Am 7. April 1920 warnte er auch in einem eingeschalteten öffentlichen Vortrag vor der Gefahr, dass gesundheitliche und hygienische Fragen der demokratischen Kontrolle entzogen und strikt autoritär von der herrschenden wissenschaftlichen Meinung und Politik entschieden werden.

„Das Undemokratische dieses Autoritätsglaubens tritt der Sehnsucht nach Demokratie gegenüber (…) Sollte nicht ein stärkeres Demokratisieren, als es heute unter den gegenwärtigen Verhältnissen möglich ist, auf einem solchen Gebiete angestrebt werden können, das so nahe, so unendlich nahe jeden einzelnen Menschen und damit die Menschengemeinschaft angeht, wie die öffentliche Gesundheitspflege?“3

Selbstverständlich geht es Steiner nicht darum, Fach- und Sachautoritäten in Frage zu stellen. Wohl aber die Art und Weise, wie eine bestimmte Hygiene-Auffassung mit Staatsgewalt durchgesetzt wird, ohne dass die Menschen, um deren Gesundheit es ja geht, ein Mitspracherecht haben – zumal es ja nicht nur das naturwissenschaftliche Denkmodell über den Menschen gibt und die damit verbundene Auffassung von Gesundheit und Krankheit. Da schon das Wort Anthroposophie – griechisch: Anthropos/Mensch, Sophia/Weisheit – andeutet, dass es dabei um Menschlichkeit geht, ist klar, dass Steiner auf das Recht des Menschen auf umfassende Selbstbestimmung und Selbstentwicklung verweist und ein Gemeinwesen mündiger Menschen fordert, die wissen, dass sie einander brauchen und für- und miteinander leben.

Einer Gesundheitsdiktatur entgegenwirken

Liest man diese Worte jetzt, 100 Jahre später, inmitten der Corona-Krise, so bekommen sie eine fast dramatisch anmutende Aktualität. Zumal wenn man Steiners Sorgen und Fragen mit denen von Bill Gates vergleicht, die er auf seiner Website der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung als seine führende Ansicht geltend macht: Dort spricht er sich für flächendeckende Tests in der Weltbevölkerung aus, für globale Impfstrategien und bei Bedarf für gesundheitliche Totalüberwachung mit Hilfe der Informationstechnologie. Auch betont er, wie Staat und Privatwirtschaft hier zusammenarbeiten müssen, damit das alles effizient ungesetzt werden kann. Damit wird eine moderne Wissenschafts- und Wirtschaftsdiktatur zur realisierbaren Möglichkeit.

Angesichts einer solchen Gefahr betont Steiner, dass das Wirtschaftliche nicht zum „Herrn über das Geistige“ werden darf. Der Gesundheit der Menschen sollte man nicht mit ökonomischer Gesinnung dienen, sondern aus „sozialem Sinn“. So seien etwa zur Erklärung und Bekämpfung z.B. von Typhus noch ganz andere Dinge notwendig als die Ausmerzung von Typhusbazillen. Hängen doch hygienische Fragen eminent mit sozialem Status und Erziehungsfragen zusammen. Steiner sieht die Notwendigkeit des gesundheitsbewussten Patienten, den „mündig gewordenen Menschen“, welcher „dem als einem Gleichen gegen-überstehen (wird), der ihm das oder jenes sagt: dem sachverständigen Mediziner“.4

Dazu wäre aber eine Schulbildung nötig, die das Fundament dazu legt. Nicht aus Autoritätsglauben sollte der Kranke therapeutische Vorschläge an- und Medikamente einnehmen, sondern wo immer möglich aus Einsicht. Steiners Credo war: Soziale Fragen müssen mit pädagogischen Mitteln angegangen werden und pädagogische Fragen mit einem Schulsystem, das sich an der gesunden Entwicklung der Kinder und Jugendlichen orientiert anstatt an den Leistungsvorgaben aus Wirtschaft und Politik. Daher auch seine Forderung bei der Begründung der Waldorfpädagogik 1919, dass es ein Recht auf Bildung geben müsse bis zum 18. Lebensjahr und erst danach die Vorbereitung auf welchen Schulabschluss auch immer erfolgen solle – je nachdem, was der Jugendliche dann vorhat. Erziehung war für Steiner deshalb Teil der wichtigsten Gesundheitsvorsorge: der Prävention bzw. Präventivmedizin.

Gesetzmäßigkeiten, die den Menschen ausmachen

In der Anthroposophischen Medizin werden diese verschiedenen Ebenen, von denen Kränkung oder Schwächung der körperlichen Konstitution ausgehen können, differenziert beschrieben und als physische, ätherische, astralische und Ich-Organisation des Menschen benannt. Diese „Organisationen“ sind komplexe Zusammenhänge von Gesetzmäßigkeiten, die Rudolf Steiner auch als „Wesensglieder“ bezeichnet hat – handelt es sich dabei doch um die zentralen Wesensäußerungen des Menschen als physisch-körperlich, belebt, beseelt und geistbegabt.

Entscheidend ist dabei, dass diese Gesetzeszusammenhänge nicht nur den Körper in seiner Komplexität konstituieren, sondern sich im Verlaufe des Lebens auch durch Wachstum und Entwicklung wieder von der Tätigkeit in der Körperkonstitution emanzipieren können. Sie stehen dann als die Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens zur Verfügung, die den inneren Entwicklungsraum der Seele ausmachen. 6 Eine solche Betrachtung erlaubt es dann auch, das vorgeburtliche und nachtodliche Menschenwesen konkret zu denken. Das Gesetz des freien Falls, das wirkt, wenn ein Körper zu Boden fällt, kann man auch „nur“ denken, ohne dass gerade etwas fällt. Ebenso kann man sich den Menschen als „ewig“, d.h. in Gedanken, Gefühlen und Absichten lebend, vorstellen, als vorgeburtliche nachtodliche Existenz, die nach jedem Erdenleben ihren Erdenkörper ablegt und Rückblick auf ihr Leben und die bisherige Entwicklung hält, um im Sinne des Entwicklungszieles der Menschheit ein weiteres Erdenleben vorzubereiten.

Ökologisches Bewusstsein durch umfassendes Menschenbild

Durch diese Sichtweise auf den Menschen wird nicht nur eine integrative Medizin denkbar, die auf der physischen Ebene die Möglichkeiten der Schulmedizin miteinschließt. Vielmehr wird dadurch konkret verständlich, warum die Gesundheit über Lebensstil, Selbsterziehung im Seelischen und geistig-meditative und religiöse Übungen ebenfalls unmittelbar beeinflusst werden kann. Diese Zusammenhänge lassen sich im Einzelnen studieren. Dadurch wird die geistige Realität von Gedanken erlebbar – auch des Gedankens des eigenen Ich. Wer anfängt, bewusst in seinem Denken, Fühlen und Wollen als in einer nichtsinnlichen Welt zu leben, in der sein Wesen „ewig“ beheimatet ist, so wie sein Körper in der vergänglichen Welt, steht mit einer anderen Kraft im Leben, als jemand, dem die geistige Welt verschlossen ist.

Ein spirituelles Menschenbild wie dieses kann aber auch als eine Art Heilmittel empfunden werden gegenüber der Kränkung durch die materialistische Weltanschauung.

Ist es nicht kränkend, den Menschen zu einem Zufallsprodukt materieller Vorgänge zu erklären?

Ihn über seine innere Natur im Ungewissen zu lassen, was begreiflicher Weise Angst und Depression verursacht?

Und voll von Hohn und Spott ein geistiges Weiterleben nach dem Tod für Spinnerei oder eine vorwissenschaftliche Glaubenssache zu erklären?

Wer so denkt, hat es schwer ein ökologisches und empathisches Bewusstsein zu entwickeln, das ist nur zu verständlich.

Vgl. Michaela Glöckler, „Fragen und Überlegungen zur Corona-Krise aus medizinischer Sicht“, in: „Corona – eine Krise und ihre Bewältigung, Verständnishilfen und medizinisch-therapeutische Anregungen aus der Anthroposophie“, ISBN 9 783751 917919

  1. Siehe Michaela Glöckler, Was ist Anthroposophische Medizin?
  2. Siehe Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin. Erster Ärztekurs. GA 312, Dornach 2020.
  3. Rudolf Steiner, Die Hygiene als soziale Frage, öffentlicher Vortrag, 7. April 1920. In: Fachwissenschaften und Anthroposophie, GA 73a, Dornach 2005.
  4. Ebd.
  5. Ebd.
  6. Vgl. Rudolf Seiner, Ita Wegmann, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geistes-wissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27, Dornach 1991, S. 12 f.

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