Auswirkungen der Krise auf die Gesellschaft

Welche Auswirkungen hat die Krise auf die Gesellschaft in all ihren Bereichen?

Welche sollte sie haben, dass es besser werden kann?

Diese Fragen sollten alle bewegen, die ihre Verantwortung als Zeitgenossen erkannt haben.

Einschätzung des Ethikrates

In dem Bericht des Ethikrates der Bunderegierung von Prof. Peter Dabrock und Prof. Steffen Augsberg lesen wir u.a.:

„Für ein Gremium, dessen gesetzliche Aufgabe darin besteht, Bundestag und Bundesregierung zu beraten, aber auch öffentliche Diskurse zu stimulieren, ist das Anhalten der durchaus kontroversen Debatte selbstverständlich kein Grund zur Sorge. Die Debatte kann und sollte von allen, auch der Politik, als Ausdruck der offenen Gesellschaft begrüßt werden. Denn: Wenn Menschen schon in einem bewundernswerten Maß Solidarität zeigen und teils sehr drastische Freiheitseinschränkungen recht klaglos in Kauf nehmen, dann darf man ihnen nicht das Recht absprechen, über die ungekannten Herausforderungen der Gegenwart nachzudenken, ja auch zu klagen, darauf hinzuweisen, was sie bei sich und bei anderen an Belastungen erleben, oder zu hinterfragen, ob die ergriffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind. Es ist vor diesem Hintergrund nicht nur legitim, sondern geboten, sich auch Gedanken zu machen, wie es weitergeht und unter welchen Bedingungen Öffnungsperspektiven verantwortbar, ja vielleicht sogar geboten sind. ‚Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik.‘ Mit diesem Satz schließen wir unsere Stellungnahme – verstanden als Einladung und Aufforderung, dass die Entschlossenheit der handelnden Politik gestärkt wird, wenn sie – je länger je mehr – den Resonanzraum der Öffentlichkeit sucht. Den Bürgerinnen und Bürgern, die diese Öffentlichkeit sind, muss ihrerseits eine gewisse Geduld abverlangt werden, weil wir den Höhepunkt der Krise offensichtlich noch vor uns haben. Es ist zu früh, Öffnungen jetzt vorzunehmen. Aber es ist nie zu früh, über Kriterien für Öffnungen nachzudenken. Alles andere wäre ein obrigkeitsstaatliches Denken, das bei uns nicht verfangen sollte und mit dem man das so notwendige Vertrauen der Bevölkerung nicht stärken würde. (…) Wir müssen weg von einem Alles-oder-nichts-Denken und -Handeln. Je länger die Krise dauert, je mehr Stimmen dürfen, ja müssen gehört werden. Wir sollten keine Angst haben, viele Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen, aber auch legitimen Interessen zu Wort kommen zu lassen.“ 1

Eine solch mutige Stimme ist die des Hamburger Pathologen Prof. Klaus Püschel, Leiter des gerichtsmedizinischen Instituts am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er hat am 2. April im Hamburger Abendblatt von seinen Untersuchungen erzählt, die er nach dem Tod der dort mit der Diagnose COVID 19 verstorben waren, durchgeführt hat. Er hätte keinen einzigen Fall gehabt, der nicht durch schwere Vorerkrankungen belastet gewesen sei. Daher kritisiert er das Robert Koch Institut schwer, dass die Obduktion der sogenannten Corona-Toten aus hygienischen Gründen wegen mutmaßlicher Ansteckungsgefahr nicht empfiehlt. Man müsste doch von den Toten für die Lebenden lernen. Es würde sich dann seiner Einschätzung nach herausstellen, dass es sich um typische Todesereignisse im hohen Alter gehandelt hätte, wie sie in jeder Grippesaison vorkommen. Auch den wenigen bekannten Einzelfällen, die im jüngeren Alter verstorben seien, hätte man nachgehen müssen, was definitiv zum Tod geführt hätte.

Moralität und Mitmenschlichkeit versus Überwachung

Als ich das las, dachte ich an Rudolf Steiners Forderung nach einer Demokratisierung des Gesundheitswesens. Diese Forderung ist in der jetzigen Krise aktueller denn je. Bezugnehmend auf die Angst vor dem jetzt überall in Erprobung begriffenen digitalen Überwachungsstaat möchte ich Joseph Weizenbaum , Professor am Massachusetts Institute of Technology/MIT, zitieren. Er war im 20. Jahrhundert einer der einflussreichsten und innovativsten Mitentwickler dieser Technologien in den USA. In einem Interview im Orwell-Jahr 1984 entgegnete er auf die Frage, ob der totale Überwachungsstaat kommen werde:

„Natürlich, darauf wird ja konsequent hingearbeitet. Aber wenn er wirklich kommt, dieser Staat, dann ist er viel eher eine Folge davon, dass die Menschen ihre Freiheit nicht stärker verteidigen, als dass der Computer die Schuld daran trüge.“2

Er nennt das Stalin- und das Hitler-Regime als Beispiele, wie Totalüberwachung auch ohne Computer möglich ist, und wie sehr eine gedeihliche Zukunft der Menschheit davon abhängt, dass sich Moralität und Mitmenschlichkeit weiterentwickeln. Diese Eigenschaften hervorbringen zu helfen, sei die wichtigste Herausforderung für das Erziehungssystem der Zukunft. Wer meint, dass die Digitalisierung dabei förderlich sei, liegt falsch. Moralität kann man nicht lehren, ebenso wenig wie Wertebewusstsein. Beides kann nicht über eine App heruntergeladen werden. Beides kann sich nur im konkreten Umgang mit realen Menschen entwickeln, die diese Qualitäten vorleben, die mit Kindern und Jugendlichen verbindlich zusammenleben und -arbeiten.3

Und so kann es einem Mut machen zu sehen, wieviel Positives, wieviel Fürsorglichkeit neben aller Angst und Sorge in der Corona-Krise entstanden ist und weiter entsteht. Viele Menschen sagen und schreiben, wie sie wieder begonnen haben, darüber nachzudenken und zu sprechen, was für sie wirklich wichtig ist, was ihnen echte Freude bereitet; dass es auf reale menschliche Beziehungen ankommt. Es ist zu hoffen, dass im Rahmen der Aufarbeitung dieser durch die Corona-Pandemie ans Tageslicht getretene Krise – insbesondere wirtschaftlich, sozial und im Gesundheitswesen – andere Leitgedanken herangezogen werden als davor.

Doch noch stecken wir mittendrin und erleben, in welchem Ausmaß unser Wohlbefinden davon abhängt, wie wir über uns und die Lage denken.

Was uns aus der Krise heraushelfen kann

Wie wird es nach Corona weitergehen?

Diese überlebenswichtige Frage brennt vielen auf der Seele. Manche wollen es genauso haben wie davor, andere wünschen sich längst überfällige Veränderungen. Von Albert Einstein stammt das berühmte Zitat:

„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“

Die meisten Menschen spüren schon seit Jahren, dass ein grundlegender Wandel in Kultur und Wirtschaft notwendig ist, der ein Umdenken aller erfordert, dass es Grenzen des Wachstums auf unserer begrenzten Erde gibt, die ernst genommen werden müssen. Irgendwann ist auch der letzte Urwald abgeholzt, sind die größten Bodenflächen durch Überdüngung nachhaltig geschädigt bis hin zur Unfruchtbarkeit, ist die Klimakrise nicht mehr aufzuhalten.

Im „smarten Zuhause“ ist alles digital gesteuert und vernetzt bis hin zu den Küchengeräten, Alexa und ähnliche elektronische Geräte helfen bei der Routine-Hausarbeit und kommunizieren mit Anbietern im Internet. Man muss nicht mehr selbst die Haustür aufschließen, beim Eintreten ertönt die Lieblingsmusik, man muss nur noch wenige Stunden arbeiten, kann sich alles selber einteilen und das eigene Heim wird zur Welt, in dem ständig alle Informationen abrufbar sind.

Dafür steigen die Arbeitslosenzahlen weiter, das Massenelend in den Kriegs- und Krisenregionen hat zugenommen. Selbst wenn das bedingungslose Grundeinkommen kommen würde – das Geld dazu ist vorhanden, es müsste nur etwas umverteilt werden – wären dadurch nötigen die Mittel für die Aufrechterhaltung des Konsums bereitgestellt, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Ändert sich jedoch nicht die Art über Wirtschaft zu denken grundlegend, würde sich genau die Entwicklung weiter fortsetzen, die uns in die Krise hereingeführt hat.

Notwendige Neugliederung der Gesellschaft

Rudolf Steiner formulierte bereits nach dem ersten Weltkrieg sehr konkrete Vorschläge:3

 Dass das Wirtschaftsleben assoziativ strukturiert sein sollte, was bedeutet, dass alle Beteiligten an der Wertschöpfungskette bis hin zum Verkauf mit den Konsumenten zusammensitzen und sich über nachhaltige Herstellung, adäquate Arbeitsbedingungen und akzeptable Preise so verständigen. Nur dann würde für alle Beteiligten etwas Zufriedenstellendes dabei herauskommen: mit Sicherheit mehr Qualität und weniger Konsum. Es wäre ein Weg, die Wachstumsideologie zu ersetzen durch ein ökologisch orientiertes Denken in Kreisläufen und Wechselbeziehungen, das dem Zusammenleben von Mensch, Natur und Erde auch langfristig gerecht würde.  Dass wir ein eigenständiges freies Kulturleben – Schulen, Bildungseinrichtungen, Universitäten, künstlerische Tätigkeiten – brauchen, das sich unabhängig von Bildungsplänen entwickeln kann und dessen Finanzierung nicht an Einflussnahme gekoppelt ist, weil eben Freiheit und Selbstbestimmung wichtigste Bildungsziele sind.  Dass das Rechtsleben so gestaltet werden müsste, dass die Politik lediglich die Gesetze und Rahmenbedingungen schafft, in denen Wirtschaft, Kultur und Soziales im gesellschaftlichen Leben miteinander harmonieren können.

Großartige Bücher wie die bahnbrechenden Publikationen von Rachel Carson, „Der stumme Frühling“ und des Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“ sind seither erschienen. Auch Ernst Ulrich von Weizsäcker und Anders Wijkman schrieben ein grandioses Buch mit dem Titel „Wir sind dran“.4 Dieser Band wurde 2018 zusammen mit 33 weiteren Mitgliedern des Club of Rome erstellt für dessen 50-jähriges Bestehen. Wenn nur ein Bruchteil der für Staat und Wirtschaft Verantwortlichen dieses Buch lesen und es ernst nehmen würden, hätte die Menschheit beste Chancen.

Was uns die Krise lehrt

Denn was lehrt uns die Krise? Was die Virusforschung?

Dass alles mit allem zusammenhängt. Dass wir Menschen ein Teil des Ökosystems sind und unser Leben integraler Bestandteil des Lebens auf unserem Planeten ist – nicht mehr und nicht weniger:

Wir brauchen ein integratives Menschen- und Gesellschaftsverständnis, das auch die geistige Dimension des Daseins umfasst. Wir brauchen zudem eine säkulare Spiritualität, die sich auf das Denken als Brücke zwischen der Sinnes- und Geisteswelt stützt und als solche ihren Beitrag zur Kulturentwicklung der Menschheit leistet. Dazu kann die Anthroposophie mit ihren ganzheitlichen Kulturinitiativen nicht nur auf den bisher schon relativ bekannten Gebieten der Medizin, Pädagogik und Landwirtschaft beitragen, sondern auch vermehrt auf sozialem und wirtschaftlichem Felde: Das haben uns u.a. die Pioniere wie der Begründer der dm-Drogeriemarktkette Götz Werner oder der Träger des Alternativen Nobelpreises Ibrahim Abuleish mit der SEKEM-Kulturinitiative in Ägypten eindrücklich gezeigt.

Die große Chance aber, die die Pandemie mit sich bringt, liegt ebenso auf der Hand wie die Gefahren: dass viel mehr Menschen mit viel größerer Wachheit die großen Umwälzungen im politisch-wirtschaftlichen Bereich zu verfolgen beginnen, dass sie die Mitverantwortung am Geschehen erkennen und die Entwicklungsprozesse auch angesichts der mächtig vorangetriebenen digitalen Transformation mit offenen Augen verfolgen und sich tatkräftig dafür einsetzen, sie so konstruktiv wie möglich mitzugestalten.

Vgl. Michaela Glöckler, „Fragen und Überlegungen zur Corona-Krise aus medizinischer Sicht“, in: „Corona – eine Krise und ihre Bewältigung, Verständnishilfen und medizinisch-therapeutische Anregungen aus der Anthroposophie“, ISBN 9 783751 917919

  1. www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Pressekonferenzen/pk-2020-04-07-dabrock-augsberg.pdf
  2. Joseph Weizenbaum, Kurs auf den Eisberg. Die Verantwortung des Einzelnen und die Diktatur der Technik, München 1987, S. 104
  3. Siehe die Petition des „Bündnis für humane Bildung“ unter www.eliant.eu
  4. Vgl. Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, GA 23, Dornach 1976
  5. Wir sind dran: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen - Club of Rome: Der große Bericht, München 2019.

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