Autonomie, Herz und Gewissen

Was bedeutet es, dem eigenen Gewissen zu folgen?

Welcher Instanz gehorcht unser Gewissen?

Wo ist der Sitz der Gewissensstimme?

Diese Fragen sind aktueller denn je. Denn so wie ein Arzt in letzter Instanz – per Be-rufsrecht – nur seinem Gewissen verantwortlich ist, so können wir alle – gerade in Zeiten wie diesen – üben, unserem Gewissen zu folgen. Bereits der Entschluss, sich in letzter In-stanz nicht vor Staat, Kirche oder Wissenschaft zu verantworten, sondern vor seinem wahren Ich, seiner innersten Gewissensstimme, regt selbständiges Denken an, macht Mut, stärkt das Herz und damit auch das Immunsystem. Selbstverständlich nimmt man ange-sichts der Corona-Pandemie Rücksicht auf Bestimmungen, Sorgen und Ängste im eigenen Umfeld. Man weiß sich aber innerlich sicher – im Sinne der fünf Tore zu Krankheit und Gesundung –, dass die Entscheidung über Tod und Leben nicht von behördlichen Bestim-mungen abhängt, sondern tief im eigenen Schicksal begründet ist, und dass die Entwick-lung mit dem Tod nicht aufhört.

Aus solch einer inneren Sicherheit und Lebenshaltung heraus kann man die Balance herstellen zwischen akzeptablen Bestimmungen, die tatsächlich dem Lebensschutz die-nen, und absurden Bestimmungen, die zum Selbstzweck werden, lebensfremd sind und die Freiheitsrechte demokratischer Systeme untergraben. Sicherheit höher zu stellen als Freiheit gehorcht der Logik von Materialismus und Machtoptimierung. Sich einzugestehen, dass das einzig Sichere im Leben der Tod ist, lässt uns die kostbare Lebenszeit, jeden ein-zelnen Augenblick, schätzen.

Das Herz als Sitz des Gewissens

Auch wenn man sich gedanklich klarmacht, was das Gewissen sagt, so erklingt die Gewissensstimme doch im Herzen. Das Herz kann sich dabei wie verkrampft oder ganz leicht und entspannt anfühlen. Es reagiert unmittelbar auf die Art und Weise, wie wir uns fühlen, ja, es ist Zentrum unseres Gefühlslebens. Unser Gefühl atmet zwischen innen und außen, d.h., es wird bestimmt von den Eindrücken dessen, was in der Welt vorgeht, aber auch von den Sehnsüchten, die in unserem Inneren leben: Dazu gehört die Sehnsucht nach Gesundheit, nach der Erfüllung von Wünschen, dazu gehören Hoffnungen auf das Erreichen selbst gesteckter Ziele, aber auch die Sehnsucht nach Identität und Geborgen-heit, nach einer neuen Unschuld, nach Reinheit, nach Liebe, Vertrauen, Hoffnung, Zuver-sicht und Wahrheit, ja letztlich, nach Verwandlung und Vollkommenheit. Hier entspringt auch unsere Sehnsucht, zu neuen Ufern aufzubrechen, Vergangenes hinter uns zu lassen, uns zu ändern, Neues anzupacken oder auch Gewesenes mit neuen Augen anzuschauen und zu verarbeiten.

Das Herz ist ein Organ, das sich in ständigem Wechsel öffnet und verschließt. Auch unser Gefühlsleben braucht diesen Rhythmus von Sich-Öffnen und Wieder-Verschließen: sich der Herausforderungen und Probleme dieser Welt gewahr zu werden, und sich dann wieder klar auf die eigenen Möglichkeiten zur Lösung beizutragen zu besinnen.

  • So entspricht die Fähigkeit des Herzens, sich zu öffnen, dem Sich-Öffnen gegenüber den Inspirationen der Gewissensstimme.
  • Das Sich-auf-sich-selbst-Besinnen hingegen hängt mit der aktuellen Gefühlssituation, mit den eigenen Wünschen, Hoffnungen und Sehnsüchten zusammen.

Wenn Menschen ihrem Gewissen folgen und den Mut haben auch unpopuläre Wahrheiten auszusprechen, ohne Angst vor Stigmatisierung oder Ausgrenzung, stärkt dies nicht nur das Immunsystem, sondern auch das Vertrauen in die Zukunft.

Drei Gewissensstimmen unterscheiden

Wenn wir genau lauschen, können wir drei Gewissensstimmen unterscheiden. Zwei der Stimmen drängen sich geradezu auf und konkurrieren manchmal auch miteinander: Die eine bestätigt uns, rechtfertigt unsere Vorhaben als das sogenannte „gute Gewissen“. Die andere geht mit Zweifeln und Schuldgefühlen einher, die an unserer Seele nagen und schlechte Gefühle hervorrufen – das „schlechte Gewissen“. Beide Stimmen sollten erst geprüft werden, bevor wir ihnen „glauben“ oder gar unüberlegt Folge leisten. Zumal die alltägliche Erfahrung zeigt, dass offenbar die männliche Konstitution mehr dazu neigt, ein gutes Gewissen zu haben, wohingegen Frauen eher die Schuld bei sich suchen und zu ei-nem schlechten Gewissen neigen. Hat man zum Beispiel in einer Mann-Frau-Partnerschaft gemeinsam etwas erlebt, was auf diese Weise unterschiedlich nachklingt in der Seele, ist es äußerst hilfreich, sich darüber zu unterhalten und durch bewusstes Abwägen der Wahrheit näher zu kommen.

Das notorisch gute Gewissen verführt dazu, in der Entwicklung stehenzubleiben und sich – egal, was geschieht – selbst zu bestätigen. Das führt früher oder später dazu, dass man als sozial schwierig empfunden wird. Das notorisch schlechte Gewissen hingegen führt auch in eine Sackgasse der Entwicklung: in Missstimmung, Selbstzweifel und Depres-sion. Wenn man nicht aufpasst, gerät man dadurch leicht in Abhängigkeit von Freunden und Bekannten, die zu raten und zu helfen versuchen oder auch von therapeutischen oder geistlichen Autoritäten, die professionelle Hilfe geben wollen.

Wie aber erkennt man die Wahrheit?

Wie wird man dem Leben gerecht, wie fördert man Autonomie, Gesundheit und Wahrhaf-tigkeit in und um sich?

Die Antwort ist einfach: indem man an der eigenen Urteilsfähigkeit arbeitet. Dazu gehört, die beiden Gewissensstimmen, die eigenartigerweise wie von selbst zu einem sprechen, zwar zu hören, ihren Wahrheitsgehalt aber sorgfältig abzuwägen und zu prüfen, bevor man ihnen blindlings folgt.

Das Gewissen bewusst befragen

Die dritte Gewissensstimme spricht nur, wenn man sein Gewissen bewusst befragt:

Was kann ich aus dieser Situation lernen?

Wie kann ich, sollte ich in eine ähnliche Situation kommen, meine Sache besser machen?

Wie kann ich offener werden?

Wie lerne ich intensiver zuzuhören, entschiedener abzulehnen, weniger zu zaudern?

Geht man mit Fragen dieser Art regelmäßig um, indem man sie in schwierigen Situa-tionen, in denen man nicht ein noch aus weiß, wiederholt mit in die Nacht nimmt, be-kommt man tatsächlich Antworten – nicht unbedingt am nächsten Morgen, eher irgend-wann am Tag, wenn man es nicht erwartet. Diese dritte Stimme unterscheidet sich von den beiden anderen dadurch, dass sie uns vollkommen frei lässt.

Rudolf Steiner betont in seinen christologischen Vorträgen immer wieder, wie gut und richtig es ist, dass es keine naturwissenschaftlichen Beweise dafür gibt, dass der Christus-Jesus auf der Erde gelebt hat, geschweige denn dafür, dass er vom Kreuzestod auferstanden ist:

„Gerade mit Bezug auf das Christus-Ereignis muss in unserem Zeitalter verstanden werden, dass man zu dem Christus nur hinkommen kann auf geistige Art. Niemals wird man ihn in Wirk-lichkeit auf äußere Art finden. Man kann es sich sagen lassen, dass er existiert, aber wirklich finden kann man den Christus nur auf geistige Art. Das ist wichtig zu bedenken, dass in dem Christus-Ereignis ein Ereignis da ist, über das alle diejenigen im Missverständnis leben müssen, die keine geistige Erkenntnis zulassen wollen.“ 1

Die christliche Gewissensstimme

Wer erkennt, dass er in der Gewissensstimme schon eine Möglichkeit hat, geistige Er-kenntnisse zuzulassen, der kann auf diesem Wege auch ganz konkret die Christus-Nähe erleben: die Tatsache, dass er bei uns ist „alle Tage, bis an der Welt Ende.“ 2

Wenn ER unser Gewissen inspiriert, geschieht es immer freilassend und wirkt in Situa-tionen der Schuld heilsam und ermunternd, weckt die Zuversicht, dass mit dieser Erfah-rung neue Entwicklungsschritte möglich sind, die einem selbst und anderen dienen wer-den. In Situationen aber, in denen man Gefahr läuft, selbstgerecht zu urteilen, regt uns das vom Christus inspirierte Gewissen dazu an, unseren Blick auf uns selbst auf gesunde Art zu relativieren und die Bereitschaft zu entwickeln über uns hinauszuwachsen. Man könnte auch sagen: Wenn wir mit uns und unserem Gewissen in dieser Art zurate gehen, bewegen wir uns zwischen der sinnlich gegebenen und der übersinnlichen Welt – zwi-schen der Welt der Sinne und der Welt des Geistes, die nur dem Denken zugänglich ist. Da sind wir einerseits ganz allein und auf uns selbst angewiesen, andererseits sind wir aber auch offen für das, was uns aus der geistig-übersinnlichen Welt inspirieren möchte.

Einsamkeit und Verbundenheit sind so gesehen weder in der Sinneswelt noch in der Geisteswelt im Widerspruch miteinander: Wir brauchen beide, um uns einerseits als au-tonome Wesen zu erkennen, uns aber auch bewusst und sinnstiftend in das Ganze unse-rer Mitwelt eingliedern zu können.

Vgl. M. Glöckler (Hrsg.), Th. Hardtmuth, Ch. Hueck, A. Neider (Hrsg.), H. Ramm, B. Ruf, „Corona und das Rätsel der Immunität. Ermutigende Gedanken, wissen-schaftliche Einsichten und soziale Ideen zur Überwindung der Corona-Krise“, 2020 Akanthos Akademie e.V., Stuttgart

  1. Rudolf Steiner, in: Schicksalsbildung und Leben nach dem Tode. GA 157a. Ru-dolf Steiner Verlag, Dornach 1981, S. 165.
  2. Neues Testament, Matthäus 28, 20.

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