Bedeutung von Krankheiten für die Entwicklung des Menschen

Warum reagieren wir im Laufe unserer Entwicklung auf körperliche, seeli-sche und geistige Irritationen mit Krankheit?

Warum haben wir nicht von Natur aus die Möglichkeit uns problemlos über-all anzupassen?

Warum braucht der Mensch einen anderen Umgang mit Krankheit als Tiere und Pflanzen?

Die Corona-Pandemie gibt Anlass zu grundsätzlichen Überlegungen in Bezug auf Krankheiten und ihre Auswirkungen auf uns Menschen. In der außermenschlichen Natur kommen Krankheiten nur als „Regler“ des ökologischen Gleichgewichts vor. Wenn ein wildlebendes Tier erkrankt oder verunfallt, wird es rasch gefressen oder stirbt, weil es sich nicht mehr ernähren kann. Oder aber Pflanzen und Tierarten sterben aus, weil ihre Le-bensräume vom Menschen so verändert wurden, dass sie sich nicht mehr anpassen kön-nen und ihre Existenzfähigkeit gefährdet ist oder erlischt. Dass dies bei Haustieren anders ist, liegt an ihrer Symbiose mit den Menschen und der damit verbundenen Tiermedizin.

Krankheiten als Impulsgeber für das Immunsystem

Das zeigt: Leben mit Krankheit ist etwas spezifisch Menschliches. Dabei muss man vor allem drei Arten von „normalen“ Erkrankungen unterscheiden:

  1. In Kindheit und Jugend sind akute Infekte vorherrschend,

  2. zwischen 20 und 40 sind es überwiegend psychosomatische Beschwerden, die für die Zeit von Ausbildung, Berufsweg und Familiengründung typisch sind,

  3. und danach beginnen früher oder später chronische Krankheiten, die die Betroffenen oft bis ans Lebensende begleiten.

Diese „normalen Krankheiten“ sind Begleiter jeder Biographie – im Einzelfall stärker oder schwächer ausgeprägt oder nur tendenziell vorhanden. Denn auch wenn jemand sagt: „Ich war immer gesund!“, so übergeht er oder sie den gelegentlichen Schnupfen oder einen Durchfall im Urlaub. Daher schreiben Ärzte in solchen Fällen bei der Anamnese: Nie ernstlich krank gewesen.

Die drei genannten Krankheitsformen haben unverzichtbare positive Nebeneffekte:

  • Akute Infekte im 1. Lebensdrittel

Durch die akuten Infekte im Wachstumsalter wird die Entwicklung eines stabilen Im-munsystems ermöglicht, das im Laufe des Lebens vor ernstlichen Erkrankungen schützt.

  • Psychosomatische Beschwerden im 2. Lebensdrittel

Die psychosomatischen Probleme hingegen bewirken, dass Menschen im mittleren Lebensalter nach Mitteln und Wegen suchen, stresstolerant zu werden, Frustrationen besser verarbeiten zu können, selbstbewusster zu werden, zu sich zu stehen, sich so an-zunehmen, wie sie sind. Viele beginnen mit Selbstcoaching und Selbstmanagement oder greifen nach spirituellen Schulungsbüchern wie Rudolf Steiners „Wie erlangt man Er-kenntnisse höherer Welten?“. Andere beginnen Yoga oder einen Zen-Kurs zu machen.

Das Ergebnis ist immer ein stabileres „seelisches Immunsystem“, die Fähigkeit, mit sich selber und der Mitwelt besser zurechtzukommen. Und es sind gerade diese Unpässlichkei-ten und Krankheitssymptome, die dabei helfen. Sie weisen den Weg und machen wach für die notwendigen Lernziele. Vögel, Hunde und Katzen dagegen können nicht perfekter werden als sie sind. Ein Vogel würde durch die Auseinandersetzung mit Krankheitssymp-tomen dadurch nicht „vogeliger“. Es macht also keinen Sinn für sie, sich mit Krankheits-symptomen herumplagen zu müssen. Nur wir Menschen ringen lebenslang darum menschlicher zu werden.

  • Chronische Krankheiten im 3. Lebensdrittel

Die positiven Nebeneffekte chronischer Krankheiten im letzten Lebensdrittel sind oft Anlass, Entwicklungs- und Sinnfragen zu stellen, die auch die Frage nach dem Tod und einer möglichen Postexistenz in körperloser Form beinhalten. Solche existentiellen Refle-xionen können Anlass für eine geistige Neuorientierung sein. Wer die Begrenztheit und Zerbrechlichkeit der körperlichen Existenz selber erlebt, in dem werden neue Gefühle und Gedanken wach, die ihn auf seine unvergängliche, rein geistige Existenz hinweisen. Diese lebt nicht im Körper, wohl aber in den Kräften der Gedanken, Gefühle und Intentionen – in der Identität, die bewusster entwickelt wird. Auf diesem Wege entsteht dann die soge-nannte „geistige Immunität“.

Sinn von altersunabhängigen Erkrankungen und Unfällen

Außer diesen drei Formen von Krankheit, die jeden Lebenslauf mehr oder weniger intensiv begleiten, gibt es dann noch die Gruppe schwer verständlicher, schicksalhaft auf-tretender unerwarteter Krankheiten, wie z.B. Leukämie im Kinderalter, angeborene Herz-fehler, eine Lebensmittelvergiftung, ein Unfall, der eine Behinderung nach sich zieht. Hier ist „Sinnfindung“ nur möglich, wenn man von den „normalen Krankheiten“, die das Leben begleiten, gelernt hat, dass Krankheiten nicht schädigen, sondern Entwicklungshelfer sein wollen. Dass sie keine „Strafe Gottes“ sind, sondern der individuellen Entwicklung dienen.

Dabei ist es wichtig, dass die Betroffenen sich ehrlich fragen:

Warum ist gerade mir das geschehen?

Was hat sich dadurch in meinem Leben geändert?

Was konnte ich nur durch dieses Ereignis lernen?

Wer es ernstlich will, wird durch die Antworten einen Sinn, eine persönliche Botschaft für den weiteren Weg finden.

Entwicklung über mehrere Erdenleben

Bleibt die Frage:

Und wenn durch Krankheit der Tod eintritt?

Warum so viel lernen, wenn man doch plötzlich stirbt und dann vielleicht „alles aus“ ist?1

Fragen wie diese legen nahe, dass menschliche Entwicklung in einem Leben nicht „zur Vollkommenheit“ führen kann. Dass der Tod zwar das Erdenleben beendet, die Entwick-lung damit aber nicht beendet sein kann.

Wie soll denn z.B. die Prophetie aus dem Johannesevangelium wahr werden, wo gesagt wird: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei ma-chen“ (Joh 8, 32), wenn der Mensch nur einmal leben würde?

Und das noch dazu entweder als Mann oder Frau oder etwas Selbstbe-stimmtem dazwischen?

Sobald man ernsthaft über die Entwicklungsfähigkeit des Menschen nachdenkt, kommt einem der Gedanke der Reinkarnation ganz natürlich vor. Dann ist der Gedanke erlösend, dass man die Errungenschaften eines Erdenlebens in ein Leben zwischen Tod und neuer Geburt mitnehmen kann und dort in einer geistigen Daseinsform ein nächstes Leben vorbereitet, in dem neue Aufgaben für die Weiterentwicklung anstehen. In diese andere nicht körperliche Daseinsform können wir aber nur mitnehmen, was wir als den-kende, fühlende und wollende Menschen bisher geworden sind.2

Eine weitere Folge solcher Überlegungen ist ein wachsendes Gefühl der Mitverantwor-tung für den Planeten Erde, damit dieser uns die Chance zur Weiterentwicklung noch lan-ge bieten kann. Unter diesem Aspekt kann die Corona-Pandemie eine völlig neue Bedeu-tung gewinnen: als globaler Entwicklungshelfer, der uns als Menschheit wachrüttelt für die brennenden Fragen des Lebens, die alle Lebensformen und -wesen auf diesem Plane-ten mit einschließen.

Vgl. Michaela Glöckler, „Fragen und Überlegungen zur Corona-Krise aus medizinischer Sicht“, in: „Corona – eine Krise und ihre Bewältigung, Verständnishilfen und medizinisch-therapeutische Anregungen aus der Anthroposophie“, ISBN 9 783751 917919

  1. Michaela Glöckler, Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung, zu beziehen über https://www.buch-engel.com/GLOECKLER-MICHAELA-HRSG-Raphael, oder die Medizinische Sektion am Goetheanum.
  2. Siehe dazu Rudolf Steiners Vorträge Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt, GA 153, Dornach 1997.

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