Gesunder Menschenverstand im Umgang mit COVID-19

Im Folgenden einige Situationen, die helfen können, die konkrete Gefahr besser ein-zuschätzen und lebensgemäßer damit umzugehen.

  • Umgang mit Maskenpflicht im Unterricht

Eine Lehrerin bespricht mit ihren Kolleginnen sowie den Eltern ihrer Klasse und selbstverständlich auch mit den Schülerinnen und Schülern die lebensrealen Risiken, die durch das Tragen von Masken im Klassenzimmer entstehen. Denn auch beim besten Lüf-ten atmen alle am Unterricht Beteiligten dieselbe Luft ein und aus, die mit einem gewis-sen Maß an Viren (nicht nur Coronaviren!) belastet ist. Auch wenn grobe Tröpfchen durch die Masken wirkungsvoll abgehalten werden können, entweichen doch feine Aerosole durch die Luftlöcher am Rande der Maske, wo die Luft rascher entweicht als durch den Stoff. Das kann jeder selber nachprüfen bei seiner Maske.

Es ist also unbestritten, dass durch die Maske die Viruslast geringer wird, dass jedoch nicht verhindert werden kann, im gemeinsamen Luftaustausch zu sein, noch dazu, wenn man, wie in einer Familie, täglich mit denselben Menschen zusammen ist. Man bildet dadurch ein sogenanntes Cluster oder salopp gesagt, eine Virusgemeinschaft.

Man könnte doch verabreden, das Restrisiko gemeinsam zu tragen, einen normalen Unterricht zu machen und die Maskenpflicht an der Tür zum Klassenzimmer enden zu las-sen. Das geht jedoch nur, wenn alle Beteiligten einverstanden sind. Und man könnte das dann auch mit den örtlichen Behörden besprechen und sogar wissenschaftlich begleiten, indem man einen Vergleich zieht mit anderen Schulklassen, in denen die Maskenpflicht eingehalten und auf das Singen verzichtet wird. Man könnte zudem den Nutzen eines entspannten, herzlichen und normalen Unterrichtsgeschehen dem möglichen Schaden gegenüberstellen, dass im Fall eines positiv getesteten Kindes die ganze Klasse für min-destens fünf wenn nicht gar zehn Tage in Quarantäne muss.

Was spricht gegen eine auf diese Weise „kontrollierte Freiheit“, noch dazu angesichts der Tatsache, dass Kinder selten Erwachsene anstecken und ihre Symptome in der Regel milde sind und Lungenentzündungen bisher nicht vorkamen?

Solch ein an die Lebenswirklichkeit angepasstes Vorgehen hätte zudem den Vorteil, dass man miteinander spricht, sich gegenseitig ernst nimmt und Entscheidungen trifft, die für alle Beteiligten stimmen. In Kombination mit mehr Information über Resilienz-Faktoren und Strategien zur Stärkung des Immunsystems würde diese Lösung zudem die Angst massiv eindämmen helfen.

  • Bei Uneinigkeit in Bezug auf die Maskenpflicht

Eine Waldorf Erzieherin wird von den Eltern bestürmt, dass sie im Kindergarten ohne Maske ganz normal mit den Kleinen den Alltag gestalten soll. Ein Elternpaar, das die Mas-kenpflicht befürwortet, droht, die Einrichtung anzuzeigen. Man kommt in gegenseitigem Einverständnis überein, dass dieses Elternpaar sein Kind abmeldet und in einem anderen Kindergarten in der Nähe anmeldet. Die Situation ist gerettet, der gesunde Menschenver-stand hatte eine Chance, indem man den verschiedenen Lebensbedürfnissen gerecht werden konnte.

  • Ein zweiter Blick auf die Übersterblichkeit

Stephan Seiler berichtet am 18.11. im Newsletter von Corona Transition: «Außergewöhnlich hohe Übersterblichkeit in der Schweiz.» So die Überschrift des Tagesanzeigers vom 17. November. Die Zahl der Todesfälle der über 65-Jährigen sei – vom 2. bis 8. November (Woche 45) gegenüber dem langjähri-gen Erwartungswert gerechnet – dramatisch gestiegen. Auch Swissinfo, der internationale Dienst der Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft titelte: „Zweite COVID-Welle führt zu hoher Übersterblichkeit“.

Seiler schreibt dazu: „Ich wollte es genauer wissen und rechnete die Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS) durch. Ergeb-nis: In der Woche 45 des laufenden Jahres starben tatsächlich 507 Menschen mehr als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre – immerhin eine Steigerung von 36 Prozent. Aber – und das ist sehr wichtig – sol-che Schwankungen auf Wochenbasis sind normal und alles andere als repräsentativ. Vergleicht man die Zahlen von Sterbefällen der über 65-Jährigen in der Woche 41 des laufenden Jahres mit denen der fünf Vorjahre, sieht es schon ganz anders aus: 59 Sterbefälle mehr in diesem Jahr, das ist ein Plus von 5,2 Prozent gegenüber dem Fünfjahresdurchschnitt und damit rund siebenmal weniger als in der vom Ta-gesanzeiger und Swissinfo gewählten Woche 45. In der Woche 35 gab es in diesem Jahr sogar 105 Ver-storbene weniger als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre.“

  • Unterschied zwischen Denunziation und Anzeigepflicht

Eine Religionslehrerin schreibt mir eine Episode aus dem Religionsunterricht: 28 Fünftklässler sitzen vor ihr. Sie fragt die Kinder im Gespräch: Würdet ihr euren Nachbarn anzeigen, wenn ihr seht, dass sich dort mehr als 2 Familien treffen? (Der zweite Lockdown in Deutschland war gerade voll im Gang) 27 Kinder antworten: Ja, das muss man den Behörden anzeigen. Nur ein Kind sagt „nein“.

Welche der Antworten ist lebensfreundlicher und damit lebensgemäßer?

Für welche Antwort braucht es mehr Mut und Authentizität?

Sicher fühlen sich die 27 Kinder im Recht. Wenn man aber nicht weiß, warum sich beim Nachbarn nicht nur zwei Familien getroffen haben, kann man nicht beurteilen, ob hier nicht eine Ausnahme von der Regel nötig war. Man urteilt nur nach Zahl und Gesetz und verliert die individuell-menschliche Situation aus den Augen. Anhand einer solchen Situation lassen sich wertvolle Gespräche über den Unterschied zwischen Denunziation und Anzeigepflicht führen.

  • Nicht jeder Corona-Tote hatte Corona

Eine Arzt-Kollegin erzählte mir, dass sie eine Verwandte wegen Herzinfarkt auf der Intensivstation besucht und dann die Angehörigen mit begleitet hat. Die Patientin starb kurz darauf. Es war verabredet, dass die Familie den Sarg abholen kann. Doch dann kam ganz kurzfristig die Nachricht, dass der Sarg wegen Corona nicht herausgegeben wird. Sie kontaktierte daraufhin im Auftrag der Familie die verantwortlichen Kollegen auf der In-tensivstation und fragte nach dem Grund: Es stellte sich heraus, dass obwohl der Corona-PCR-Test zweimal negativ gewesen war, man sie jedoch auf dem Totenschein als Corona-positiv markiert hatte. Aufgrund dieser Tatsache und der fachlichen Diskussion unter Kol-legen war es dann doch möglich, den Sarg abzuholen. Es blieb aber die Diagnose auf dem Papier bestehen: Tod nach Herzinfarkt mit COVID-19. Vermutlich ging es hier um den Ab-rechnungsmodus. Man bekommt mehr Geld für die intensivmedizinische Behandlung ei-nes COVID-19-Patienten. Meine Kollegin sagte mir nach dieser Episode: Das hat mich ge-lehrt, auch die Zahlen, die von den Intensivstationen gemeldet werden, mit Vorsicht ent-gegenzunehmen. Einfach nur glauben, kann ich sie nicht mehr. Recht und Gesetz sind das eine – die Lebenswirklichkeit das andere.

Wie sich gesunder Menschenverstand bildet

An angeführten Beispielen kann man erkennen, dass gesunder Menschenverstand nicht auf Bequemlichkeit, Oberflächlichkeit und Sicherheitsdenken beruht, sondern ein-hergeht mit der Entwicklung von persönlicher Initiative, Selbstwirksamkeit, echtem Inte-resse und Freiheitsbewusstsein. Dass jedoch Freiheitsdenken, Mut und Risikobereitschaft nicht ins Chaos führen, ist die zentrale Erziehungsfrage unserer Zeit. Die gegenwärtigen Schul- und Bildungssysteme entsprechen dieser moralischen Herausforderung nicht. Sie fördern vielmehr durch ihre einseitige Leistungsorientierung und Testkultur Anpassung und Absicherungsdenken. Und sie korrumpieren durch das ständige Verglichen-Werden mit „besseren“ und „schlechteren“ Schüler*innen die Entwicklung eines gesunden Selbst-bewusstseins. Die „besseren“ werden überheblich – die „schlechteren“ deprimiert.

Ein gesundes Selbstbewusstsein braucht als Grundbedingung für seine Entwicklung jedoch, dass jedes Kind nur mit sich selbst verglichen wird und Freude am eigenen Fortschritt erlebt. Und es braucht die Begleitung von Pädagog*innen, die ihm helfen aus seinen Fehlern zu lernen. Dann kann sich sowohl ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln als auch Toleranz für das Fehlverhalten anderer. Ethik und Wertebewusstsein kann man nicht lehren – man muss sie von klein auf erleben und üben dürfen, wenn sie zu Charakterzügen werden sollen. 1

Fazit:

Gesunder Menschenverstand behält die Lebensrealität im Blick. Er lässt uns wach bleiben und das, was man liest, hört, sieht und täglich erlebt, ernst nehmen, aber auch hinterfragen, wenn einem etwas merkwürdig vorkommt. Je mehr Menschen dies tun und den Mut aufbringen, Fragen und Rückschlüsse ihres gesunden Menschenverstandes ande-ren mitzuteilen, umso weniger Angst und Sorge muss man vor der Totalüberwachung ha-ben, die gegenwärtig im Namen von Schutz- und Sicherheit von den Politikern propagiert und von der Mehrheit der Bevölkerung aus Angst vor Ansteckung begrüßt wird. Im anvi-sierten voll digitalisierten Alltag, in dem es unter vielem anderen kein Bargeld mehr geben wird, darf das Bewusstsein nicht schwinden, dass hier Privatheit ein Fremdwort sein wird. Dafür gewinnen Politik und Wirtschaft enorm an Macht und profitieren von der Datenflut, die wir dann – und zum Teil auch jetzt schon – durch unser Alltagsverhalten produzieren.

Vgl. M. Glöckler (Hrsg.), Th. Hardtmuth, Ch. Hueck, A. Neider (Hrsg.), H. Ramm, B. Ruf, „Corona und das Rätsel der Immunität. Ermutigende Gedanken, wissenschaftliche Einsichten und soziale Ideen zur Überwindung der Corona-Krise“, 2020 Akanthos Akademie e.V., Stuttgart

  1. Vgl. Michaela Glöckler: Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, Stuttgart 2. Auflage 2020.

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