Wesen und Wirkung von Viren

Geschichte und Bedingungen der Virusforschung

Das Wort Virus stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Schleim, Gift, Geifer. In die Medizin eingeführt hat es der römische Enzyklopädist Aulus Cornelius Celsus (25 v.Chr. – 50 n.Chr.)1 Seine acht Bücher zu den medizinischen Fachgebieten wurden im 15. Jahrhundert erstmals gedruckt und breit zugänglich. Viele seiner Behandlungsvorschläge – zum Beispiel die physiologische Fieberbehandlung bei Entzündungen – machen auch heute noch Sinn. Da es damals noch keine Elektronenmikroskope gab, konnte man zwar Gift beinhaltende Flüssigkeiten wie Speichel und andere Sekrete und Exkremente oder verdorbenes Wasser als Krankheitsursache identifizieren, nicht jedoch die darin vorhandenen Verursacher des Problems. Entsprechend ist die Virusforschung ein Kind des 20. Jahrhunderts. Die Corona-Viren kennen wir seit den späten sechziger Jahren. Aber erst seit Erfindung der Kryo-Elektronenmikroskopie, für die 2017 der Chemienobelpreis an Jacques Dubochet (Schweiz), den gebürtigen Deutschen Joachim Frank (Vereinigte Staaten) und Richard Henderson (Großbritannien) ging, ist das Sichtbarmachen von einzelnen Biomolekülen möglich. Sie entwickelten die sogenannte Kryo-Elektronenmikroskopie zur hochauflösenden Strukturbestimmung von Biomolekülen. Diese Methode vereinfacht und verbessert das Sichtbarmachen von Biomolekülen so sehr, dass damit eine neue Ära der Biochemie begonnen hat.

Ein Virus ist kein eigenständiges Lebewesen. Es besteht nur aus einem kürzeren oder längeren Stück Erbgut entweder vom Typ DNS (DNA-Viren) oder RNS (RNA-Viren). Dieses ist von einer unterschiedlich geformten Proteinkapsel oder Hülle umgeben, oft geometrisch geformt. So verdankt das Corona-Virus seinen Namen seiner schönen kugeligen Form. Viren können sich deshalb nur kurz am Leben erhalten, wenn sie nicht in eine funktionstüchtige Zelle von Bakterien, Pflanzen, Tieren oder Menschen eindringen. Sonnenlicht und Wärme vernichten sie rasch, im Feuchten oder auch im Eis können sie dagegen lange aktionsfähig bleiben.

Die kontextabhängige Natur der Viren

Viren machen nicht automatisch krank. Sie richten sich in ihrer Arbeitsweise vielmehr nach der Situation des Milieus, des Wirtsorganismus, in den sie eindringen. Das Masernvirus stammt z.B. ursprünglich vom Rind und bildet für den Menschen einen Krankheitserreger, während es in Fledermauspopulationen vorkommt, ohne diese zu beeinträchtigen und krank zu machen.

Thomas Hardtmuth hat zu diesem Thema einen sehr lesenswerten Aufsatz geschrieben, in dem er diese kontextabhängige Natur der Viren als hochplastische genetische Informationsträger bzw. Informationsvermittler anhand vieler Beispiele herausarbeitet.2 Er fasst die Ergebnisse seiner bisherigen Recherche so zusammen:

„Aus systemwissenschaftlicher Perspektive stellen die Viren in ihrer Gesamtheit (Virosphäre) das vermittelnde Medium einer globalen genetischen Kommunikation unter den Organismen dar. Die Genome einzelner Lebewesen sind daher weniger das Ergebnis zufälliger Mutationen, sondern können als umkreis- und kontextabhängige, evolutive Neuarrangements aus diesem grundsätzlich dialogisch organisierten System der Virosphäre verstanden werden. (…) Die hohe genetische Plastizität, Adaptivität und Mutabilität der Viren wurde über unzählige Entwicklungsschritte in den hochkomplexen, intrazellulären RNA- Elementen der genetischen ‚Textbearbeitung‘ aller Lebewesen internalisiert und konserviert, die als epigenetisches Regulativ zwischen Umwelt und Organismus vermitteln und damit die Voraussetzung für Weiterentwicklung und Artenvielfalt sind. Viren haben eine Doppelnatur, indem sie genetische Impulsgeber und Krankheitserreger gleichzeitig sind. Ihre Pathogenität erweist sich vor diesem Hintergrund lediglich als Sonderfall im Sinne einer Stress- und Störanfälligkeit jeder innovativen, lebendigen Entwicklung.“3

Damit beantwortet sich die Frage, warum die Menschen durch ihre modernen Lebensformen und Wirtschaftsweisen für so etwas wie die Corona-Epidemie/Pandemie entschieden mitverantwortlich sind.

Sesshafte Viren als Evolutionshelfer

Thomas Hardtmuth verweist in diesem Zusammenhang auf Günther Witzanys Konzept der Biokommunikation:

„Wie sich in den letzten Jahren herausstellte, sind die infektiösen, hochgefährlichen Auswirkungen viraler Infektionen eine Art Sonderfall und kennzeichnen jene Viren, die keinen dauerhaft sesshaften Lebensstil in Wirtsorganismen entwickeln können. In den meisten Fällen leben Viren in einem Wirtsorganismus und helfen ihm dabei, konkurrierende Parasiten abzuwehren (wodurch er ein höheres Immunitätsniveau erreicht, Anm. Th. H.). Sie werden damit oft zu einem Teil der Evolutionsgeschichte des Wirtsorganismus bzw. der ganzen Wirtsart. Sesshafte Viren sind entscheidend für Artenvielfalt und Wirts-Genom-Bearbeitung. Praktisch alle Kompetenzen der natürlichen Genombearbeitung, wie sie in der Konservierung von Gen-Ablesung, Transkription, Translation und Rekombination repräsentiert sind (mit all ihren Schritten und Zwischenschritten), stammen von viralen Fähigkeiten ab. (…) Seit durch mehrere Beobachtungen klar geworden ist, dass Viren fähig sind, genetisches Material in die Wirtsgenome zu integrieren, wurde deutlich, dass Viren neben infektiösen Lebensstrategien auch symbiotische und symbiogenetische Lebensstile haben. Sie übertragen phänotypische Eigenschaften auf den Wirt, die ein nicht infizierter Wirt der gleichen Wirtsart nicht hat. Als endosymbiontische Viren, die von der Wirtsvervielfältigung abhängen, sind sie Teil der Wirtsgeschichte, indem sie vererbbar werden und damit Teil der genomischen Identität des Wirts.“4

Viren erfüllen damit seit Urzeiten eine wichtige Aufgabe in der Evolution.

Wenn Viren zu Krankheitserregern werden

Bei Irritationen des Systems können Viren jedoch pathogene, das heißt krankheitserzeugende, Eigenschaften entwickeln. Um nun die Problematik und Herausforderung von Viruserkrankungen verstehen zu können, muss man die anfangs erwähnte besondere Natur der Viren in Betracht ziehen. Zur Bedrohung können sie vor allem werden, wenn sie neu in einen lebenden Organismus eintreten und dessen Lebensprozesse umsteuern, um sich selbst zu vermehren. Bei virusbedingten Erkrankungen beginnen Viren den gastlichen Wirt zu zerstören, indem sie immer weitere neue Zellen befallen, bis das Immunsystem diesem Geschehen Einhalt gebietet. Die Bedrohlichkeit der meisten Viren hängt demnach unmittelbar von der immunologischen Reaktionsfähigkeit des „Wirtes“ ab, die mit dem Alter generell abnimmt. Auch für Bevölkerungen, die ein Virus überhaupt nicht kennen, so wie einst die südamerikanische Bevölkerung das Masernvirus und die heutigen Bewohner Amazoniens das SARS-CoV-2-Virus, kann die massenhafte Ansteckung verheerend verlaufen, weil sie nicht angemessen darauf reagieren können.

Das SARS-CoV-2-Virus ist für viele Menschen im Grunde nicht zur Gänze neu. Es besteht in der Bevölkerung wahrscheinlich sogar eine Hintergrund- oder Teilimmunität durch den Kontakt mit anderen Coronaviren, die in jedem Winter für durchschnittlich 10 % aller Atemwegsinfekte verantwortlich sind. Da man nicht wissen konnte, wie stark unser Immunsystem auf das neue Corona-Virus reagieren würde, waren die Prognosen zu Anfang der Pandemie sehr pessimistisch.

Ob nun Viren oder Bakterien im Menschen eine positive Rolle spielen oder aber Krankheit erzeugen, hängt vom Zustand des Organismus und seiner Umwelt ab. Je nach Klima und Ort können sie sogar unterschiedliche Krankheiten hervorrufen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Pfeiffersche Drüsenfieber (Mononukleose). Es wird durch das Epstein-Barr-Virus ausgelöst. Dasselbe Virus aber kann zum Beispiel in Afrika das Burkitt-Lymphom hervorrufen, eine bösartige Lymphdrüsen-Erkrankung. In China hingegen ist es für eine bestimmte Form von Rachenkrebs verantwortlich.

Viren als genetische Assistenten

Auch das sogenannte Genetic-Engineering, das wir aus der Medizin bzw. der Landwirtschaft als Gentechnik oder Genmanipulation kennen, basiert auf dem Studium der natürlichen Lebensart der Viren. Sie bringen sich quasi als ein Stück Erbgut in fremde Zellen ein und existieren friedlich mit diesen zusammen, wobei sie deren Erbgut etwas modifizieren, indem sie Teile davon zwischen verschiedenen Individuen austauschen. Man kann sogar sagen, dass sie Elementen dieses Erbgutes entsprechen, dass unsere DNA zu einem großen Anteil aus ehemaliger Virussubstanz besteht. Durch das Einschleusen bestimmter Erbgutsequenzen Organismen zu verändern, ist also von jeher „Tagesgeschäft“ von Viren und keine Erfindung des Menschen. Eine plötzlich auftretende Veränderung im Erbgut wurde in der klassischen Genetik noch als genetischer Zufall oder Spontanmutation bezeichnet. Heute wissen wir, dass es im Wesentlichen der Arbeit von Viren geschuldet ist. Auch wenn die Forschung samt ihren Erkenntnissen auf diesem Gebiet erst wenige Jahrzehnte alt ist, so weiß man bereits genug darüber, um diesen „genetischen Assistenten“ in der Evolution der Welt des Lebendigen höchsten Respekt zu zollen. Als Beispiel für die unverzichtbare Entwicklungshilfe durch Viren nennt Hardtmuth u.a. die Tatsache, dass Menschen heute stärkehaltige Nahrung deshalb gut verdauen können, weil sie diese Fähigkeit durch die Integration einer Nukleotid-Sequenz aus einem Virus genetisch erworben haben, wodurch die Expression des dazu nötigen Amylase-Gens in den Speicheldrüsen kodiert wird. Man macht sich normalerweise nicht klar, wieviel man diesem „wandernden Erbgut“ auf dessen weisheitsvollen Wegen verdankt und dass ein Hauptteil des menschlichen Erbmaterials auf Integration von Viren während der Evolution zurückzuführen ist.

So wie heute das Mikrobiom des Darms zunehmend in seiner Bedeutung für Gesundheit und Krankheit des menschlichen Organismus erforscht wird, so wird die Virusforschung immer deutlicher zutage fördern, auf welcher Grundlage das menschliche Epigenom, das ohne Viren undenkbar wäre, „in jedem Moment unseres Lebens“ nachhaltig beeinflusst wird: „durch Ernährung, Lebensstil, Gewohnheiten, Krankheiten, durch unsere psychische Verfassung – ja sogar durch unsere gebildeten Vorstellungen, die ebenso ihr genomisches Korrelat haben.“5 Demnach entscheidet der gesundende oder krankmachende Umgang mit uns selbst und unserer Mitwelt darüber, ob die Viren in uns ihrer natürlichen Aufgabe als Entwicklungshelfer nachkommen können oder zu Krankheitserregern werden.

Vgl. Michaela Glöckler, „Fragen und Überlegungen zur Corona-Krise aus medizinischer Sicht“, in: „Corona – eine Krise und ihre Bewältigung, Verständnishilfen und medizinisch-therapeutische Anregungen aus der Anthroposophie“, ISBN 9 783751 917919

Vgl. auch: Georg Soldner, Markus Sommer, „Ökologie und Pandemie. Was lernen wir an COVID-19?“ Rundbrief Medizinisches Seminar Bad Boll am 7. November 2020

  1. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Aulus_Cornelius_Celsus
  2. Thomas Hardtmuth, Die Rolle der Viren in Evolution und Medizin – Versuch einer systemischen Perspektive. In: Jahrbuch für Goetheanismus, Band 36, Stuttgart 2019, S. 3-61.
  3. Ebd, S. 3.
  4. Günther Witzany, Biokommunikation und natürliche Bearbeitung genetischer Texte – die Anwendung der sprachpragmatischen Philosophie der Biologie. Norderstedt 2010, S. 121. Zitiert nach Thomas Hardtmuth, a.a.O., S. 15 f.
  5. Thomas Hardtmuth, a.a.O., S. 27.

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