Das Erleben von Gut und Böse im Kindesalter

Welche Aufgabe hat der Erwachsene im Umgang mit Gut und Böse?

In welcher Art erleben Kinder das Böse als Wirklichkeit?

Das Böse als Gegebenheit der Schöpfung von Anfang an

Im Alten Testament in der Schöpfungsgeschichte vom Weltall und vom Mensch wird nach jedem Schöpfungsakt betont, dass „Gott sah, dass es gut war“. Augenscheinlich haben bereits hier die Mächte des Bösen eine Rolle gespielt. Als dann der Mensch erschaffen wurde, war das Böse ebenfalls im Paradies anwesend. Dass der Mensch es eines Tages erkannte, wird als ein besonderes Ereignis in seiner Entwicklung dargestellt: Gott hatte verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, das Böse, in Gestalt der Schlange, verführte den Menschen jedoch, indem es ihm verspricht, dass er durch den Genuss der Früchte eines bestimmten Baumes Gut und Böse erkennen würde. Damit wird angedeutet, dass die Möglichkeit frei zu wählen von Anfang an im Menschen veranlagt war und dass das Böse zur Zeit der menschlichen Schöpfung bereits eine Wirklichkeit war. Hierfür werden Adam und Eva nun die „Augen aufgetan“. Damit verbunden werden ihnen Mühe, Arbeit, Schmerzen und Leiden vorhergesagt, aber auch die Vergebung verheißen.

Kindern Orientierungshilfe geben

Wie Gott im Alten Testament vor dem Menschen steht, so steht der Erwachsene vor dem Kind, wenn er sagt: „Das ist gut, böse, lieb, hässlich, ja oder nein.“ Wir erzeugen von uns das Bild als von jemandem, der weiß, was gut und böse ist. Das trifft auch auf diejenigen zu, die mit dem Alten Testament nichts anfangen können, wenn sie mit Kindern leben und ihnen ratend und helfend zur Seite stehen wollen. Es gibt gegenwärtig viele Erzieher, denen das unangenehm ist. Sie fragen sich:

Ist es nicht eine Anmaßung, quasi als Richter vor dem Kind zu stehen?

Aus einer solchen Haltung heraus ist der antiautoritäre Erziehungsstil entstanden. Hier dürfen die Kinder machen, was sie wollen. Aus diesem Erziehungsstil sind nicht, wie erhofft, besonders selbstsichere und seelisch starke Menschen hervorgegangen. Das war auch nicht anders zu erwarten, da ein solches Vorgehen nicht der menschlichen Entwicklung entspricht.

Kinder durchlaufen eine unmündige Phase, in der sie Entscheidungshilfen seitens der Erwachsenen brauchen. Sie sind umgeben von vielem, was ihnen schadet, und was die Erwachsenen von ihnen fernhalten müssen, da sie es von sich aus noch nicht durchschauen können (vgl. Wille(nsschulung): Willensfragen). Außerdem können Kinder bei Erwachsenen, die nicht wagen klare Entscheidungen zu fällen, auch keine Orientierungsfähigkeit und kein Entscheidungsvermögen lernen. Sie können im nachahmungsfähigsten Alter diese wesentliche menschliche Eigenschaft nicht miterleben (vgl. Elternsein heute: Führungseigenschaften von Eltern).

Individuelle Wahrnehmung des Bösen

Die Frage, ob und inwiefern Gut und Böse für Kinder eine Wirklichkeit ist, wird im späteren Leben ganz unterschiedlich beantwortet. Die einen haben das Böse in der Kindheit mehr als äußere Macht wahrgenommen und erlebt, andere mehr als von innen kommend im Sinne böser Gedanken, Gefühle oder auch Neigungen. Das trifft auch auf das Gute zu.

Darüber hinaus haben viele Menschen die Erfahrung gemacht, dass es ihnen äußerlich ganz gut ging, während sie im Innern gequält waren von bösen Ahnungen, Neigungen oder Problemen. Umgekehrt wurde z.B. während des Krieges oft erlebt, dass man kein Dach über dem Kopf hatte und doch im Inneren tiefe Ruhe verspürte, dass man Dankbarkeit und auch Frieden empfinden konnte. Äußeres und inneres Erleben stimmen nicht von vorneherein überein, sie müssen vom Menschen erst in Übereinstimmung gebracht werden.

Außenerlebnisse des Bösen können vielfältig auftreten: Kinder können in der Natur, besonders in der Abenddämmerung, vor allen möglichen Gegenständen und Vorgängen Angst bekommen. Sie erleben ein dunkles Zimmer, ein Kellergewölbe, einen Baumstumpf in einer nebligen Abendwiese noch wie beseelt und erschauern vor dem Feindlichen oder Drohenden, das sie wahrnehmen. Es gibt aber auch Wahrnehmungen, die sich auf nicht sinnlich Sichtbares beziehen. Ein Kind kann beim Einschlafen erleben, wie ein schwarzes Tier mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll aus der Wand herausspringt. Gepeinigt schreit das Kind auf, die Mutter läuft herbei und sieht – nichts. Die Mutter, die mir dieses Erlebnis ihrer Tochter erzählte, sagte auf meine Frage hin, wie sie denn darauf reagiert habe: Ich habe meiner Tochter einfach gesagt: Du darfst halt nicht mit dem Gesicht zur Wand einschlafen – dreh dich doch anders herum, dann kommt das Tier nicht. Das wirkte.

Sicherheit vermitteln gegenüber Wesenhaftem

Es ist für die Kinder eine wichtige Erfahrung, die Sicherheit zu erleben, mit der der Erwachsene solchen Erzählungen entgegentritt, wie er durch einen klaren Gedanken oder ein ruhiges Wort die Situation beherrschen kann.

Woher kommen aber derartige Gesichter bzw. Erscheinungen?

Welche Realität haben sie?

Wieso ist es möglich, dass Kinder Wahrnehmungen haben, die der Erwachsene normalerweise nicht hat?

Diese Erscheinungen hängen mit demjenigen zusammen, was in Märchen und Sagen als Hexen, Teufel und Gespenster beschrieben wird – mit den Elementarwesen und Gnomen.

Sind diese für das Kind sichtbar?

Warum wurde in früheren Zeiten auch von Erwachsenen über sie berichtet und geschrieben?

Der Erwachsene kann sich Gedanken über gute und böse Einflüsse machen, sie aber normalerweise nicht wesenhaft schauen. Kinder scheinen diese Fähigkeit noch zu besitzen und Gedanken wie etwas konkret Wesenhaftes wahrzunehmen. Ihr Denken hat noch nicht den abstrakten Charakter, von dem es später geprägt sein wird.

Die Frage – Ist das Böse für die Kinder eine Wirklichkeit? – kann man in zweifacher Hinsicht bejahen. Zum einen erleben sie es in Form der unheimlichen und erschreckenden Eindrücke. Andererseits erfahren sie auch sehr viel Hässliches, Freches und Böses in ihrer unmittelbaren Umgebung, im Umgang miteinander, wenn sie sich kratzen und beißen oder von anderen gejagt und geschlagen werden. Für die Bewältigung beider Erlebnisbereiche ist die Hilfe des Erwachsenen notwendig, der diese Erlebnisse zu verstehen und zu verarbeiten hilft, indem er beispielsweise sagt: „Es ist nicht gut, einen anderen zu schlagen oder zu treten – auch wenn er dir etwas getan hat. Das bringen wir auf andere Weise in Ordnung.“ Oder wenn der Erwachsene Märchen erzählt, in denen die Wirklichkeit der Elementarwesen, Kobolde, Nixen und Hexen dargestellt wird.

Das gibt den Kindern die Sicherheit, dass das, was sie an erschreckenden und angenehmen Erscheinungen wahrnehmen, genauso zum Bestand der Welt gehört wie die Teller und Tassen auf dem Tisch.

Vgl. Kapitel „Ist das Böse für Kinder eine Wirklichkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart