Wirklichkeit und Notwendigkeit des Bösen

Ist das Böse eine Wirklichkeit?

Ist es der Welt Gottes zugehörig?

Schwierigkeit, das Böse zu akzeptieren

Wir müssen uns fast täglich mit der Frage nach dem Bösen auseinandersetzen. Sie wird noch drängender, wenn man sie auch im Zusammenhang mit den Vernichtungswaffen oder der atomaren Verseuchung sieht. Denn wenn man sich dazu durchgerungen hat, die Existenz des Bösen als von Gott zugelassen zu akzeptieren, gilt diese Akzeptanz zunächst doch nur bis zu einer gewissen Grenze. Wenn wir der schieren Vernichtung gegenüberstehen, der Tatsache, dass Tausende von Menschen dem Tod anheimfallen, dass die Natur unwiederbringlich zerstört wird, so stellt sich die Frage nach der Wirklichkeit des Bösen jedem noch einmal neu, und man gerät in Zweifel.

Aus den bisherigen Darstellungen geht hervor, dass der Mensch zur Freiheit berufen ist (vgl. Geist und geistiges Wesen: Geisterkenntnis und Freiheit). Das äußert sich u.a. darin, dass jeder Mensch selber urteilsfähig werden, sich selbst verwirklichen, sich von einem anderen nichts sagen lassen möchte. Bisweilen wissen schon kleinere Kinder ganz genau, was sie wollen, und machen ihren Willen lautstark gegenüber demjenigen der Eltern geltend. Deutlich regt sich ein Autonomiebedürfnis in jedem Menschen, und diese Autonomiefähigkeit setzt natürlich ein individuelles Urteilsvermögen voraus – d.h. die Möglichkeit, zwischen Richtig und Falsch, Sinnvoll und Sinnlos, Passend oder Unpassend zu entscheiden. Letztlich geht es bei alledem um eine Entscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen dem, was für eine Situation förderlich oder schädlich ist.

Soweit wird es in der Regel von den meisten Menschen auch eingesehen. Dann aber kommt ein Punkt, an dem man plötzlich Einhalt gebieten möchte. Man merkt, wie sich alles in einem dagegen aufbäumt, das Böse und Unsinnige, das mit der Entwicklung zur Selbständigkeit notwendig verbunden ist, in seiner Notwendigkeit für diese Entwicklung auch anzuerkennen (vgl. Christus heute: Christentum und Martyrium).

Gesichter des Bösen

Das Böse hat viele Gesichter. Wer einen buddhistischen Tempel betritt, z.B. den Tempel des tausendarmigen Buddha in Kyoto in Japan, sieht dort viele goldene Statuen, die alle in derselben Weise gestaltet sind: ein stilles, liebevoll-mildes Angesicht, die Hände betend zusammengelegt und seitlich noch zahlreiche Arme, die alle möglichen Werkzeuge in der Hand haben, zum Zeichen dafür, dass ein guter Mensch in den verschiedensten Bereichen Gutes tun kann. In demselben Tempel findet man aber auch in den Umgängen Gestalten, von denen man den Eindruck hat, dass sie nicht gerade sanft sind. Dieselben Menschen, die die goldenen Buddhas verehren, blicken auch auf diese anderen, in verschiedenster Weise widerwärtig-böse aussehenden Skulpturen hin. Fragt man, wer hier dargestellt ist, bekommt man die erstaunliche Antwort: Das sind die Götter.

In romanischen christlichen Kirchen findet man ein ähnliches Phänomen: Neben den anbetungswürdigen Statuen der Heiligen finden sich oft tierhafte Figuren oder Gestalten mit grausamem Gesichtsausdruck, die außen an der Kirche angebracht sind.

Auch in den Faschingsbräuchen herrscht in manchen Gegenden noch die Sitte, die bösen Geister zu vertreiben, indem man in ihre Haut schlüpft und damit zeigt, dass man sie durchschaut.

Die Kraft der Vergebung und das Böse

Für Erwachsene zeigt sich an dieser Stelle ein Erkenntnisproblem, das es auf differenzierte Art und Weise individuell zu lösen gilt. Das Böse stellt sich uns täglich in den drei Schichten unseres Erlebens, im Denken, Fühlen und im Wollen:

  • im Bereich des Denkens als Irrtum und Lüge
  • im Bereich des Fühlens als Hass und Antipathie
  • im Bereich des Wollens als die Fähigkeit Böses zu tun

Täglich ringen wir Menschen in unserem Denken um das Richtige, das Wahre, im Gefühlsleben um ein ehrliches Verhältnis zur Welt und im Wollen mit der Möglichkeit guter und böser Handlungen.

Im Kampf mit dem Bösen auf diesen drei Ebenen steht dem Menschen eine Kraft gegenüber, die alles wenden kann und immer wieder eine neue Ausgangssituation zu schaffen vermag: das Verzeihen. Rudolf Steiner hat einmal auf die Frage, welchen Fehler er am ehesten entschuldigen würde, geantwortet: „Alle, wenn ich sie begriffen habe.“ Im Verstehen- und Verzeihen-Können öffnet sich ein zentraler Erfahrungsraum für das Erlebnis der Freiheit (vgl. Ideale: Die Ur-Ideale – Wahrheit, Liebe und Freiheit). Wer jemandem verzeiht, von dem er schlecht behandelt wurde, kann dies nur aus innerer Freiheit heraus tun, wenn alles, was geschehen ist, dafür sprechen würde, dem anderen Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Vgl. Kapitel „Ist das Böse für Kinder eine Wirklichkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart