Demenz und Menschenwürde

Wie müssen wir uns in Pflege und Medizin, aber auch in der Sozialarbeit orientieren, damit wir die Würde des Menschen, auch wenn er exkarniert und zunehmend „erdenuntauglich“ wird, noch wahren können, weil uns die Entwicklungszusammenhänge im Lichte der Spiritualität klar vor Augen stehen?

Den Verlust würdig kompensieren

Dieses Thema möchte ich am Krankheitsbild der Demenz näher erläutern. Demente Menschen leben ein „gültiges“ Leben, das man keinesfalls als „nicht mehr lebenswerten Leben“ ansehen darf, das aber der Würdigung seitens der Mitwelt bedarf (vgl. Demenz: Schicksalswürde bewahren helfen) – auch oder gerade weil die Betroffenen mit ihrem Geistbewusstsein aus dem zeitgebundenen Leben bereits mehr oder weniger stark herausgetreten sind. Denn wenn das menschliche Ich sich exkarniert und sein Verhaftet-Sein mit dem Körper lockert, wenn es sich herauszieht und rein spirituell orientiert, tritt dieser Prozess im Physischen als Kontroll- und Kompetenzverlust in Erscheinung (vgl. Demenz: Die Phasen der Demenzerkrankung).

Damit die Menschenwürde der Betroffenen trotzdem aufrechterhalten bleibt, muss das Defizitäre vom Umkreis ausgeglichen und substituiert werden durch pflegerische Kompetenz und Kontrolle, sprich: durch einen würdigen Umgang vonseiten der Menschen, die diese Verlustsymptomatik wahrnehmen (vgl. Demenz: Würdige Pflege demenzkranker Menschen). Je besser, je intimer sie wahrnehmen, umso kompetenter und professioneller können sie ersetzen, was verloren gegangen ist.

Wenn der Mensch Geist wird

Auf der spirituellen Ebene tritt der Exkarnationsprozess, die Loslösung vom Körper, als geistiges Wachstum in Erscheinung (vgl. Sterben und Tod: Tod als Geistgeburt begriffen). Novalis, der jugendliche Dichter und Christusverkünder, hat das treffend auf den Punkt gebracht, indem er sagt:

„Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch.
Wenn der Mensch stirbt, wird er Geist.“

Sehr oft kann man beobachten, wie die Betroffenen, seien es nun Demente oder seien es Sterbende, hin- und herpendeln zwischen den Welten, wie sie manchmal schon ziemlich weg und plötzlich wieder richtig „da“ sind. Das ist wie ein rhythmisches Geschehen: Manchmal sind sie für Minuten voll präsent und dann wieder weit weg. Wenn dann ganz nahestehende Menschen auf Besuch kommen, die der Demente sehr geliebt hat, spürt man förmlich, wie die Herzensverbindung den weit entfernten Teil wieder hereinzieht, wie er durch die Augen strahlt und sich dann wieder löst. Man kann deutlich empfinden, wie wieder Leben durch das Tor des Lebens, in das Herz und in die Atmung, in das rhythmische, atmende, mittlere System rinnt.

Physische und Geistgeburt im Vergleich

Warum ist das Warten auf die Geistgeburt trotzdem oft so schwer für uns?

Dazu vorweg in paar Fakten:

  • Obwohl auch die physische Geburt eines Menschen einhergeht mit einer Bewusstseinsverdunkelung und einem totalen Kompetenzmangel, haben wir meist größte Empathie, wenn so ein hilfloses, extrapyramidal zappelndes, strampelndes, zitterndes, enorm reagibles Wesen plötzlich unter uns erscheint: Wir sind bereit, ihm jegliche Unterstützung zu geben, die es braucht. Die Erwachsenenwelt scheut sich nicht, fünfzehn, zwanzig, manchmal sogar fünfundzwanzig Jahre für diesen Pflegling zu sorgen – bis schon fast ein Viertel seines Lebens oder mehr um ist.

  • Andererseits finden wir es als Belastung, wenn nicht sogar als Zumutung, wenn bei der Geistgeburt eines Menschen fünf oder sechs, acht Jahre oder zehn, und in wenigen Ausnahmen auch zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre, „die Brut im Nest bleibt“, bevor sie sich endgültig ins Geistige verabschiedet.

Das Kinderaufziehen mag rein volkswirtschaftlich betrachtet in Deutschland um 10% billiger sein, aber für den Welt-Durchschnitt gilt das nicht: Denn weltweit gibt es viele Milliarden Menschen – im Jahr 2007 gab es weltweit aber nur knapp 30 Millionen Demente. Das ist wenig, gemessen daran, dass jeder Mensch als hilfloser Säugling geboren wird, der in seiner Umgebung Stress verursacht, weil er Hilfe braucht. Ich möchte bezweifeln, dass der Aufwand für die Betreuung am Lebensanfang und am Lebensende ausgewogen ist, selbst wirtschaftlich gesehen. Zu sagen, ein dementer Mensch koste zu viel, entspringt einer volkswirtschaftlichen Denke, die genauso wenig zu vertreten ist wie all die geistlosen materialistischen Vorstellungen, die ihren Schatten auf die Demenz und die davon Betroffenen werfen. Man kann sie zwar verstehen, sie lassen aber die Würde des Menschen völlig außer Acht.

Würdige Unterstützung am Lebensende

Die Geistgeburt mit ihren hochindividuellen Variationen erscheint uns möglicherweise als so viel beschwerlicher als die physische Geburt, weil wir so wenig darüber wissen, was uns am Lebensende erwartet und was der Mensch dann braucht. Deshalb formulierte Rainer Maria Rilke ein zutiefst menschliches Anliegen in berührenden Worten als Gebet an Gott:

„O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“

Das ganze Leben ist erfüllt von Liebe, Sinn und Not und läuft letztlich auf die bereits erwähnte Geistgeburt hinaus (vgl. Sterben und Tod: Tod als Geistgeburt begriffen). Jeder Mensch findet, wenn ihm genügend Unterstützung gewährt wird, seine individuelle Todesart, die auf natürliche Weise das physische Leben begrenzt. Und jeder Tag bis dahin zählt, unabhängig davon, ob und wie viel der Mensch noch im vergänglichen Erden-Punktbewusstsein verweilt oder ob er sich damit begnügt, mit dem jenseitigen Bewusstsein seinen Leib und die anderen Menschen liebevoll von oben schauend zu erleben.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, Dornach, 09.05.2008