Denktätigkeit und Lebenstätigkeit im Kontext von Krankheit und Gesundheit

Wie hängen Denktätigkeit und Lebenstätigkeit zusammen?

Inwiefern entsprechen sie sich, inwiefern sind sie einander entgegengesetzt?

Welchen Einfluss haben sie auf Gesundheit und Krankheit?

Identische Kräfte

Vor dem Hintergrund des Gesetzes der Metamorphose der Wachstums- und Regenerationskräfte in Gedankentätigkeit (vgl. Doppelnatur des Ätherischen: Wachstums- und Gedankenkraft) rücken Erziehung und Heilung nahe zusammen.

Was wir seelisch als Lerntrieb erleben, was sich bis zur Lernbegierde steigern kann und das Ich zur höchsten Wachheit aufruft, sind genau dieselben Kräfte, die zunächst unbewusst im Leib als Trieb- und Begierdekräfte wirksam sind: Wir verdanken ihnen also einerseits unser Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungsvermögen und andererseits – nach ihrer Metamorphose in Gedankenkräfte – die Möglichkeit zur spirituellen Selbsterhaltung durch die Suche nach unserer geistigen Identität. Der Unterschied ist,

  • dass dem körperlichen Wirken dieser Kräfte durch ihr Eingebunden-Sein in den natürlichen Entwicklungszusammenhang die Arbeitsrichtung klar vorgegeben ist.

  • Die Gedankenkräfte sind jedoch nach ihrer Metamorphose vom Naturdasein emanzipiert. Der Mensch ist frei zu entscheiden, wie er mit ihnen umgeht, ist demnach auch frei zu entscheiden, ob er sie überhaupt in den Dienst der Wahrheitsfindung und der Suche nach Sinnzusammenhängen stellt.

Entgegengesetzte Wirkrichtungen

Denktätigkeit und Lebenstätigkeit des Organismus bilden eine reale Polarität im Sinne entgegengesetzter Wirkrichtungen:

  • Wirken die Lebenskräfte auf körperlicher Ebene am Aufbau und der Erhaltung des menschlichen Körpers, sind sie in egoistischer Weise auf die Erhaltung und Pflege des eigenen Leibes ausgerichtet, der sich, um gesund zu bleiben, gegen alles verteidigen muss, was ihm fremd ist und nicht zu ihm gehört.

  • Werden die Wachstumskräfte frei für das Denken, wirken sie in umgekehrter Richtung: Ein gesunder Geist, ein gesundes Denken, ist auf die Welt, das Leben und die Mitmenschen ausgerichtet und erhebt das eigene Selbst nicht zum Maß aller Dinge und die eigene Meinung nicht zur Richtschnur für Richtig und Falsch.

So wie der Leib zu seiner Gesunderhaltung der Pflege und der Einhaltung elementarer hygienischer Regeln bedarf, so ist das Denken, der Geist, zu seiner Gesundung bzw. Gesunderhaltung im Sinne geistiger Hygiene auf die Pflege von Menschen- und Weltinteresse angewiesen. Dann wirkt der Schlaf in ganz anderem Maße gesundend, als er es tut, wenn das Denken sich auf egozentrische Weise überwiegend mit den eigenen Angelegenheiten befasst. Der Mikrokosmos des Leibes braucht im Schlaf die Anregung und Erfrischung seitens des großen Weltzusammenhanges, dem er seinen Aufbau verdankt. Findet der Mensch bei Tage im Denken nun keinen Anschluss an diesen großen Zusammenhang, wirkt sich das insofern auf den physischen Organismus aus, als der Teil des Ätherleibes, der sich bei Tage als leibfrei tätige Gedankenkraft vom Organismus emanzipiert, bei Nacht an der Regeneration des Leibes beteiligt ist. Die „verkehrte“ Orientierung wirkt sich auf zweierlei Weise negativ und schwächend aus:

  1. Ein rein leiborientiertes Denken, das nur der eigenen Selbsterhaltung dient, stellt einerseits eine Kränkung für das Gedankenleben dar.

  2. Andererseits übernimmt der Körper des Nachts die bei Tage nicht genutzte umweltorientierte Wirkrichtung des Denkens, was zur Abwehrschwäche und zur Erkrankung des Körpers führt.

Wir sehen, eines bedingt das andere. 1

Krankheit als Ungleichgewicht aufgefasst

Auf der Grundlage dieser Zusammenhänge lässt sich Krankheit als ein Ungleichgewicht auffassen, das nicht nur äußere, sondern auch innere Ursachen hat. Es ist wie bei einer Waage: Hebt sich die eine Schale, neigt sich die andere. Zum Ausgleich für den pathologischen Egoismus im Denken beginnt der Leib an irgendeiner Stelle entsprechend polar altruistisch zu werden.

So wird verständlich, warum egoistisches Denken (vgl. Denken: Denken und Gesundheit) auf Dauer krank macht: Wirkt die polare Natur des ätherischen Organismus nicht in Richtung Gesundheit – selbstorientiert auf leiblicher Ebene und weltorientiert auf gedanklicher Ebene –, sondern wird sie ins Pathologische verkehrt, führt das auf geistiger Ebene zum Egoismus und auf leiblicher Ebene zur Hingabe an die Gesetzmäßigkeiten der Welt – und damit zur Krankheit. Der Körper verliert an Integrität und Egoität, er wird „selbstloser“, seine Selbstheilungskraft und Immunität werden schwächer.

Ebenso wirkt Egoismus im Gedankenleben geistig kränkend. Wer den größten Teil seiner Zeit und Kraft darauf verwendet, sich nicht mit sich selbst zu beschäftigen, sondern sich einer sinnvollen Arbeit oder Aufgabe zu widmen, braucht weniger Schlaf, ist erfrischter und fühlt sich gesünder. Kreist man dagegen ständig um sich selbst, erlebt man das nach einer gewissen Zeit – wenn diese Beschäftigung zu keiner Neuorientierung führt – als zunehmende Kränkung bis dahin, dass Schlafstörungen oder andere Krankheitssymptome auftreten und man sich morgens wie zerschlagen fühlt. Egoistische Tendenzen im Gedankenleben bzw. geistige Trägheit und Bequemlichkeit belasten die Selbstheilungskräfte. Je nachdem, wie stark die Selbstheilungskräfte veranlagt sind, tritt die Krankheit schon in diesem Leben oder in dem folgenden oder nächstfolgenden Erdenleben in Erscheinung. (vgl. Begabung und Behinderung: Wirken der Wesensglieder in aufeinanderfolgenden Erdenleben ).

Wahrheit und Gesundheit

Wir sehen, Wahrheit und Gesundheit entsprechen einander: Das wahrheitsgemäße Denken zeichnet sich dadurch aus, dass alles zusammenstimmt, dass ein Gedanke mit der Wirklichkeit übereinstimmt. In gleicher Weise herrscht Gesundheit im Leib, wenn der Ätherleib das Immunsystem dadurch stärkt, dass das Gedankenleben und die Lebenskräfte ihrer Bestimmung gemäß zur Wirksamkeit kommen und zusammenwirken. Aus diesem Grund spielt die Wahrheitsfrage eine so überaus entscheidende Rolle im Umgang mit Kindern. Denn diese sollen nicht nur den Unterschied von Wahr und Unwahr und Gut und Böse kennenlernen, sondern auch möglichst gesund in das Erwachsenenleben eintreten. Je mehr wir uns bemühen, im Umgang mit ihnen wahrhaftig zu sein, umso mehr pflegen wir nicht nur ihr Gedankenleben, sondern auch ihre Lebenskräfte und damit ihre Gesundheit.

Der Lehrplan der Waldorfschule orientiert sich an dem sich von Jahr zu Jahr verändernden Verhältnis von Wachstums- und Gedankenkräften und gibt altersgerechte Hilfen, wie das geistig-seelisch-leibliche Gefüge durch Lernprozesse genau die Anregungen bekommt, die der Heranwachsende für seine Entwicklung braucht (vgl. Waldorfpädagogik: Entwicklungsphasen und Pädagogik im Schulalter). Waldorfpädagogik wird vielfach dargestellt als „Erziehung zur Freiheit“ (vgl. Waldorfpädagogik: Waldorfpädagogik als Erziehung zur Freiheit). Dahinter verbirgt sich für die heutige Zeit, in der Verlogenheit alle Lebensbereiche durchzieht, das viel entscheidendere Ziel: Erziehung zur Wahrhaftigkeit.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 4. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Vgl. Stefan Leber, Der Schlaf und seine Bedeutung. Stuttgart 1996.