Körperleben und Gedankenleben – das Ewige im Menschen

Wie lässt sich die gegenseitige Beeinflussung von Körperprozessen und Gedankentätigkeit erklären?

Gemeinsamer Ursprung von Lebens- und Gedankenprozessen

Es gehört zu den großen Entdeckungen Rudolf Steiners, dass er den Zusammenhang von Lebens- und Gedankentätigkeit erkannt hat: dass die Kräfte, die unser Denken ermöglichen, zugleich die Kräfte sind, die den Lebensprozessen des Körpers zugrunde liegen (vgl. Doppelnatur des Ätherischen: Gegenseitige Beeinflussung von Gedanken- und Körperleben). Rudolf Steiner bezeichnet den individuell organisierten Gesamtzusammenhang von Denk- und Lebenstätigkeit als Ätherleib. In seinem gemeinsam mit der Ärztin Ita Wegman (1876-1943) verfassten Buch „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“ konkretisiert Steiner diesen Zusammenhang:

„Es ist von der allergrößten Bedeutung zu wissen, dass die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die verfeinerten Gestaltungs- und Wachstumskräfte sind. Im Gestalten und Wachsen des menschlichen Organismus offenbart sich ein Geistiges. Denn dieses Geistige erscheint dann im Lebensverlaufe als die geistige Denkkraft.“1

Die Kräfte, die der von der Embryonalentwicklung an zu beobachtenden Lebenstätigkeit zugrunde liegen, emanzipieren sich laut Steiner fortwährend im Laufe von Wachstum und Entwicklung und treten dann als leibfreies selbstgesteuertes Gedankenleben zutage (vgl. Doppelnatur des Ätherischen: Wachstums- und Gedankenkraft).

Wer die menschliche Denktätigkeit mit der Lebenstätigkeit vergleicht, kann die innere Kongruenz bzw. die Identität dieser Wirkbereiche unschwer feststellen und ist verblüfft über die Stimmigkeit dieser Annahme Steiners. Die Prozessqualitäten, die man an lebendigen Organismen beobachten kann, stimmen mit den Prozessqualitäten menschlicher Denktätigkeit komplett überein. Das soll im Folgenden aufgezeigt werden:

  • Lebensfunktionen und Denken

Zu den zentralen Lebensfunktionen gehören Nahrungsaufnahme und Verdauungstätig-keit. Entsprechend können wir Gedanken aufnehmen und sie verarbeiten, d.h. geistig verdauen. Dabei kommt es immer auf zwei grundlegende Prozesse an: die Zerstörung der Nahrung in die Nahrungsbestandteile und den Aufbau von körpereigener Substanz aus diesen. Entsprechend hat das Denken die Fähigkeit, Inhalte kritisch zu zergliedern, sprich: sie zu analysieren, um aus den so gewonnenen Elementen neue Gedanken zu bilden, also synthetisch aufbauend tätig zu sein.

  • Atemtätigkeit und Denken

Physiologisch zeigt sich die Funktionsdynamik der Atmung im Gegensatz von Ein- und Ausatmung. Das spiegelt sich besonders im Denken von Jugendlichen, deren Lungensystem gerade in diesem Alter wichtige Wachstums- und Reifungsschritte vollendet und ihnen somit die freiwerdenden Kräfte als neue Denkfähigkeit des sogenannten dialektischen Denkens – des Denkens in Gegensätzen – zutage treten.

Die grundlegenden Einsichten des deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) basieren auf der Dialektik im Denken. Aus dem Urgegensatz von Sein und Nichtsein und dem dazwischen vermittelnden Werden und Vergehen realisiert sich nicht nur die sichtbare Welt, sondern vollzieht sich auch die Denktätigkeit:

Wie will ich z.B. etwas Kleines denken, wenn ich nicht auch das Große kenne?

Mensch und Geist

Verfolgt man die Entwicklung der menschlichen Denktätigkeit von der Geburt bis zum Ende der Wachstumsperiode, so wird deutlich, wie kongruent sich ihre Reifungsschritte mit Wachstum und Entwicklung der Organe vollziehen (vgl. Denken: Entwicklung der Organsysteme und Denken).2

Der idealistische Philosoph, Arzt und Dichter Friedrich Schiller (1759-1805) lässt seinen Wallenstein sagen: Es ist der Geist, der sich den Körper baut.3

Wolfgang von Goethe hingegen schrieb in seinem Gedicht „Vermächtnis“4:

Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ew‘ge regt sich fort in allen.
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig; denn Gesetze
Bewahren die lebend‘gen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.

Der Gedanke Steiners, dass Körperleben und Gedankenleben in Wahrheit dieselbe Quelle haben, dass ewiges Leben im Geist und vergängliches Leben im Körper zwischen Geburt und Tod eins sind, war auch Novalis bewusst (1772-1801), der schrieb:„Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch. Wenn ein Mensch stirbt, wird er Geist.“5

Vgl. Körperleben und Gedankenleben, in: Meditation in der Anthroposophischen Medizin, 1. Kap., Berlin 2016

  1. Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1991, S. 12.
  2. Michaela Glöckler, Erkenntnisgewinn durch praktischen Umgang mit anthroposophischen Forschungsergebnissen am Beispiel des Doppelaspektes der ätherischen Organisation des Menschen. In: Karl-Martin Dietz, Barbara Messmer: Grenzen erweitern – Wirklichkeit erfahren. Perspektiven anthroposophischer Forschung. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1998, S. 235-259.
  3. Friedrich Schiller, Wallenstein: Ein dramatisches Gedicht. Wallensteins Tod III, 13. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 1984.
  4. J. W. v. Goethe, Gedichte und Epen I. Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band IX, Verlag C.H. Beck, München 1998, S. 369.
  5. Novalis (Friedrich von Hardenberg), Dichtungen und Fragmente, Reclam Verlag, Stuttgart 1989.