Engel in der Dichtung

Welche Engelqualitäten spiegeln sich in den Werken von Dichtern wieder?

Welche Wirkung haben solche Dichtungen?

Engel in Grenzsituationen

Dichter, die sich des Engelthemas annehmen, beschreiben ebenfalls die Motive, die wir bereits angesprochen haben: die Grenzsituationen des Lebens, die Qualität der Wachsamkeit, des Schützens, des Geleitens, des Behütens, des Belehrens, des Helfens, aber auch des Erschreckens. So schreibt Rainer Maria Rilke:

„Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“

Die Übermacht des Engels, das unglaubliche Wissen, die unsägliche Reinheit und Ruhe können einen Menschen vernichten, wenn sie ihn unvorbereitet treffen. Das liegt an der gewaltigen Spannung zwischen der Unvollkommenheit des Menschen und der erahnten moralischen Vollkommenheit des Engels.1 Sie ist nur zu ertragen, wenn man bereit ist, sich zu verwandeln. Es bringt Freiheit für die menschliche Entwicklung, dass der Engel es verschmäht, den Menschen zu nahe zu kommen. Er lässt dem Menschen die nötige Zeit, sich nach eigenen Kräften und Möglichkeiten auf die Begegnung mit ihm vorzubereiten (vgl. Gedankenkraft: Engel und Gedankenleben).

Tröstliche Nähe in Verzweiflung empfinden

Noch zwei weitere dichterische Zeugnisse möchte ich erwähnen, die mir in Bezug auf unsere heutige Zeit besonders charakteristisch erscheinen. Das eine ist von Novalis, der im Zusammenhang mit seinen geistlichen Liedern öfter auch die Engel erwähnt. Er beschreibt eine Situation, die jeder von uns kennt – die Situation der Verzweiflung, in der man keinen Ausweg mehr zu finden glaubt. In solch einem Augenblick, wenn das Hadern sich ausgetobt hat, wenn alles gesagt ist, was man sagen wollte, kann mit einem Male eine tiefe Ruhe im Inneren erlebt werden, in der man erkannt, dass man als Mensch ein Wesen ist, das durch schöne und tragische Situationen hindurchgehen kann und nicht dazu verurteilt ist, in der einen oder anderen Lage steckenzubleiben. In diesen Augenblicken der Ruhe kann dann auch die tröstliche Nähe und Anwesenheit einer hilfreichen Macht empfunden werden, die einen fühlen lässt: Es geht ganz bestimmt weiter, habe nur noch weiter Geduld mit dir.

Wem es gelingt, aus der Verzweiflung heraus in diese Ruhe einzutreten, erkennt die Möglichkeit, in Gedanken eine Art Selbstgespräch zu führen. Man empfindet sich wie im Gespräch mit seinem Höheren Selbst – man kann sich selbst Trost zusprechen. Solange Emotionen den Menschen hin- und herwerfen, taucht diese Möglichkeit nicht auf. Erst in der inneren Stille können tröstliche Gedanken erscheinen und ihre hilfreiche Kraft entfalten.

Wer sendet solche Einfälle?

Wer vermittelt solche Gedanken?

Novalis Lied an den Engel

Wenige Augenblicke vorher fühlte man in der Seele nur schwarze Zerrissenheit – plötzlich aber ist es hell und warm geworden. Solch einen Moment beschreibt Novalis in einem seiner geistlichen Lieder:

„Es gibt so bange Zeiten, es gibt so trüben Mut, wo alles sich von weitem gespenstisch zeigen tut. Es schleichen wilde Schrecken so ängstlich leise her, und tiefe Nächte decken die Seele zentnerschwer.

Die sicheren Stützen schwanken, kein Halt der Zuversicht: der Wirbel der Gedanken gehorcht dem Willen nicht. Der Wahnsinn naht und locket unwiderstehlich hin. Der Puls des Lebens stocket und stumm ist jeder Sinn.

Wer hat das Kreuz erhoben zum Schutz für jedes Herz? Wer wohnt im Himmel droben und hilft in Angst und Schmerz? Geh zu dem Wunderstamme, gib stiller Sehnsucht Raum. Aus ihm geht eine Flamme und zehrt den schweren Traum.

Ein Engel zieht dich wieder gerettet auf den Strand. Und schaust voll Freuden nieder in das gelobte Land.“

Worte an den Schutzengel

Eine andere Lebenssituation hat Rudolf Steiner beschrieben. Während des Ersten Weltkrieges hat er alle seine Vorträge begonnen mit einem Spruch, der sich an den Engel wendet. Er gedachte zunächst derjenigen, die in der Extremsituation an der Front waren, bereit, dem Tod ins Auge zu sehen. Dann sprach er für die Menschen, die im Kampf bereits gefallen waren. Es sind Worte, die sich an den Schutzengel sowohl der Lebenden als auch der Verstorbenen wenden:

„Die ihr wachet über Erdenseelen, die ihr webet an den Erdenseelen, Geister, die ihr über Menschenseelen schützend aus der Weltenweisheit liebend wirkt, höret unsre Bitte, schauet unsre Liebe, die mit euren helfenden Kräftestrahlen sich erfüllet, geistergeben, Liebe sendend.“2

Für die Verstorbenen sagte er:

„Die ihr wachet über Sphärenseelen, die ihr webet an den Sphärenseelen, Geister, die ihr über Seelenmenschen schützend aus der Weltenweisheit liebend wirkt, höret unsere Bitte, schauet unsere Liebe, die mit euren helfenden Kräfteströmen sich einen möchte, geisterahnend, Liebe strahlend.“3

Man kann sich vorstellen, was in solchen Augenblicken an innerer Bewegung bei den Zuhörern entstand, wusste doch keine Frau, die in einem solchen Vortrag saß, ob ihr Mann in dieser Stunde noch lebte. Wir leben heute in einer Zeit, in der man zwar durch Krankheiten und im Straßenverkehr auch vom Tod bedroht ist, in der wir aber doch relativ sicher unseren Tag durchleben. In solchen Zeiten empfinden wir die Engel nur, wenn wir sie aktiv suchen.

Wer jedoch Worte dieser Art hört, wird erleben, dass die Empfindungen, die da ausgesprochen sind, einem nicht fremd, sondern vielmehr vertraut sind. Auch ohne an Engel zu glauben, kennt man dieses Getröstet-Werden, wenn man selber still wird, und erlebt auch das Gegenteil in der Trostlosigkeit, wenn man innerlich laut bleibt.

Beziehung zwischen Mensch und Engel

Christian Morgenstern hat diese Situation in einem Gedicht aufgegriffen, das ich nun als letztes noch anführen möchte. Es beschreibt die Beziehung, die Engel und Menschen während des Lebens miteinander haben. Der Engel sagt:

„Oh, wüsstest du, wie sehr dein Antlitz sich verändert, wenn du mitten in dem Blick, dem stillen, reinen, der dich mir vereint, dich innerlich verlierst und von mir kehrst! Wie eine Landschaft, die noch eben hell, bewölkt es sich und schließt mich von dir aus. Dann warte ich. Dann warte schweigend ich oft lange. Und wäre ich ein Mensch wie du, mich tötete verschmähter Liebe Pein. So aber gab unendliche Geduld der Vater mir und unerschütterlich erwarte ich dich, wann du immer kommst. Und diesen sanften Vorwurf selber nimm als Vorwurf nicht, als keusche Botschaft nur.“

Vgl. Kapitel „Vom Wirken der Engel im Leben von Kindern und Erwachsenen“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart

  1. Siehe auch H. W. Schroeder, »Mensch und Engel«, Stuttgart 1979.
  2. Rudolf Steiner, Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges. GA 174b.
  3. Rudolf Steiner, Erdensterben und Weltenleben. GA 181.