Die Raphaelische Signatur in Goethes Faust

Goethe lässt seinen Faust im Prolog im Himmel mit den Worten Raphaels beginnen. Raphael wird Zeuge der Verabredung, die Gott mit dem Teufel trifft und diesem – wie im Falle des Hiob – die Erlaubnis gibt, einem ausgesprochen gottwohlgefälligen strebenden Menschen, den Faust, mit allem zu plagen, was auf der Erde in der Macht des Teufels liegt. Auch hier interessiert nicht das, was man normalerweise unter Schuld versteht, die bestraft werden müsste. Darum geht es gerade nicht.

Entwicklung durch die individuelle Auseinandersetzung mit dem Bösen

Wie bei Hiob geht es um das Gegenteil: um einen Gott wohlgefälligen Menschen, der besonders weit entwickelt ist. Einen Menschen also, der reif ist für einen nächsten Entwicklungsschritt. Den HERRN interessiert, was dieser Mensch durch die individuelle Auseinandersetzung mit dem Bösen gewinnt – von Strafe und Richteramt ist nicht mit einem Wort die Rede. Vielmehr hören wir den HERRN die verständnisvollen Worte sagen: „Es irrt der Mensch, solang er strebt...“ Auch Raphael steht nicht als Hüter der Moral da. Er ist viel-mehr derjenige, der mit den Harmonien des Kosmos verbunden ist – den Brudersphären. Er kennt das Verbindende und das von innen her Aufbauende und Heilende. Er weiß um die Stärkung, die von dem Anblick des Guten, Schönen, Wahren – des Vollkommenen – ausgeht. Er weiß, dass dieses Herrliche, Heilsame stärker ist als die Zerstörungswut, die immer wieder die Menschen auf der Erde heimsucht und an dem Sinn der Schöpfung irrewerden lässt. Das ursprüngliche „Herrliche“, das Wissen um die Gesundheit, „die Stärke“, ist sein Gebiet.

Faust erlebt nach diesem Dialog zwischen Gott und Teufel im Himmel Ähnliches wie Hiob. Es zeigt sich bei ihm jedoch in seelischen Symptomen – nicht in Form von körperlichem oder äußerem Elend. Ihm wird alles leid und zunichte, was er vorher geschätzt hat, so dass er an den Punkt kommt, sich sagen zu müssen: „Und so ist mir das Leben eine Last – der Tod erwünscht, das Leben mir verhasst.“1 Zuvor hatte er geklagt:

Und sehe, dass wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.
Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen,
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
Mich plagen keine Skrupel und Zweifel,
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel –
Dafür ist mir auch alle Freude entrissen,
Bilde mir nicht ein, was rechtes zu wissen,
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
Die Menschen zu bessern und zu bekehren.
(...)
Es möchte kein Hund so länger leben!

Das Geheimnis des Bösen

Seine bisherige Identität ist unbrauchbar geworden – er sucht bis an den Rand des Selbstmords verzweifelt eine neue. Das von Gott und Natur geschenkte, auch das durch die akademischen Studien und die äußere Anerkennung erworbene Selbstbild trägt nicht mehr. Jetzt ist er ganz allein gefragt, sich etwas zu erringen auf seinen eigenen Irrtums- und Strebenswegen, auf denen er eine neue Identität aufbauen kann. Seine bisherige Wegsuche durch Überlieferung, Übung und Schulung reicht dafür nicht aus. Ein entscheidender Schritt fehlt noch. So wird er wach für die Schule des Schicksals, für den Weg der Einweihung durch das Leben (vgl. Mysterien und Initiation: Initiation durch das Leben), dem auch das Geheimnis des Bösen, Zerstörenden beigegeben ist.

Rudolf Steiner bemerkt dazu in seiner Philosophie der Freiheit: „Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen.“2

Alles Lernen vom Schicksal dient der Individualisierung und der Gesundung des Individuums. Rudolf Steiner nennt diesen Erkenntniszusammenhang auch Hygienischen Okkultismus2. Goethe macht dies in seinem Faust im ersten Teil anhand der Szene der Hexenküche deutlich. Hier geht es um einen Verjüngungstrank.

Warum wird uns diese Verjüngungszeremonie in der Hexenküche gezeigt?

Und warum wird die Walpurgisnacht gezeigt?

Faust ist ein Mann im besten Alter zwischen 30 und 40 Jahren. In diesem Alter braucht man eigentlich keinen Verjüngungstrank, um sich zu verlieben und/oder eine Frau zu verführen. Mit der Walpurgisnacht werden wir in einen Bereich geführt, der magisch-böse wirkt. Im Gegensatz zur weißen Magie der Rosenkreuzer, lernen wir hier die schwarze Magie kennen. Goethe lässt uns dies schauen, um uns die dunklen Seiten der Menschen-natur bewusst zu machen.

Der „Herd des Bösen“ im Menschen, das Stoffwechselsystem, hat eben nicht nur die aufbauenden sondern auch die abbauenden, zerstörenden, Kräfte in sich. In der Hexenküche wird gezeigt, wie dieser Stoffwechsel – symbolisiert durch „den Kessel“ – auch fehlgesteuert werden kann. Und damit wird er zum Ort:

  • an dem Krankheit in Gesundheit und Gesundheit in Krankheit übergehen kann;
  • an dem wir aber auch Gefahr laufen, unsere Mission zu vergessen, unsere Entwicklung zu verleugnen;
  • an dem Impulse der Regression, des in der Entwicklung in pathologischer Weise Rückwärts-Gehens und damit „Jünger-Werdens“, wirksam werden können;
  • der den Ursprung für jede Form von Machtmissbrauch deutlich macht.

Hexeneinmaleins als Beispiel für fehlgeleitete Entwicklung

Am Beispiel des Hexen-Einmaleins zeigt Goethe, wie dies geschieht, wie Verkehrungen grundsätzlich möglich sind, wie das Ziel der menschlichen Entwicklung gefährdet werden kann, wie Gutes an den falschen Platz gelangen kann. Es wird etwas getan, was das Gegenteil kosmischer Harmonie ist – in der alles Obere und Untere ausgewogen, jede Kraft am rechten Ort und im rechten Verhältnis wirkt – zum Wohl des Ganzen. Es zeigt die Möglichkeit auch physiologisch-körperlich zu irren, den Stoffwechsel bewusst zu manipu-lieren und das Geheimnis zu durchschauen, wie Leibliches auf Seelisches und Seelisches auf Leibliches wirkt. Es zeigt das Mysterium des Bösen so, wie es mit der menschlichen Natur, dem Stoffwechsel-Blutsystem, zusammenhängt.

Das Hexen-Einmaleins beginnt mit einem Appell an die menschliche Intelligenz: „Du musst versteh'n“. Auch schwarze Magie muss gelernt werden. Intelligenz ist nicht per se gut oder wahr – erst der Zusammenhang, in dem sie wirkt und die Ziele, denen sie dient, machen sie „menschenwürdig“ oder zum Diener destruktiver Impulse. Auf den ersten Blick erleben wir ein verwirrendes Zahlenspiel, wenn die Hexe sagt:

Du mußt versteh'n!
Aus Eins mach' Zehn,
Und Zwei laß gehn,
Und Drei mach' gleich,
So bist Du reich.
Verlier' die Vier!
Aus Fünf und Sechs,
So sagt die Hex',
Mach' Sieben und Acht,
So ist's vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmal-Eins!

Die Zahl 10 als Zahl der Menschwerdung

Die Zahl 10 ist die sog. Tetraktys des Pythagoras, welche die Besonderheit hat, dass sie die Summe von 1+2+3+4 darstellt. Diese vier („tetra“) Zahlen sind zugleich die Zahlen der menschlichen Wesensglieder, weswegen die 10 auch immer angesehen wurde als die heilige Zahl des Menschen. Sie steht für die Menschwerdung.

Die Zahl 4 und die vier Elemente des physischen Leibes

Die Vier steht für den vierfachen physischen Leib. Sie ist die Zahl der vier Elemente: des Festen, Flüssigen, Gasförmigen, der Wärme. Dabei hat Wärme selber keine Materie, sie ist kein Aggregatzustand, beherrscht aber die Zustände der Materie. Durch Erhitzen än-dern sich die Aggregatzustände und durch Abkühlen ebenfalls. Die Vier ist zugleich auch die Zahl der Elementarwelten

  • mit den Gnomen für den physischen Leib,
  • den Undinen für den Ätherleib,
  • den Sylphen für den Astralleib
  • und den Salamandern für das Ich bzw. für die Wärme.
  • Sie müssen alle zusammenwirken, wenn der physische Leib entstehen soll.

Die Zahl 3 und der Ätherleib

Die Drei ist die Zahl des Ätherleibes, der dreigliedrig ist. Das Leben ist ein ständiges Ringen um Gleichgewicht, eine Prozess-Gestalt. Deswegen ist ausgleichend zwischen dem Sinnes-Nervensystem und dem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System das rhythmische System der Herz- und Lungentätigkeit eingeschaltet: „ein wechselnd Weben, ein glühend Leben“ – wie der Erdgeist in der Osternacht zu Faust sagt.

Die Zahl 2 und der Astralleib

Die Zwei ist die Zahl des Astralleibes. Die Polarität Yin/Yang, oben/unten, himmlisch/irdisch. „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“. Faust fühlt die Doppelnatur seines Astralleibes. Die eine, dunkle, ist inkarniert, begierdenhaft in seinem Leib – „die andre hebt gewaltsam sich vom Dust in die Gefilde hoher Ahnen“. So spricht Faust zu Wagner am Ende des Osterspaziergangs.

Die Zahl 1 und die Ich-Organisation

Die Eins fasst alles zusammen, sie steht für unsere Ich-Organisation.

Angriff auf die Wesensglieder

Mit diesen Zahlen wird nun in der Hexenküche gespielt.

  • War das Ich bei Tage begeistert und durchwärmend im Gedankenorganismus tätig, so sind die Nachwirkungen aus dem Gedankenleben im Zuge des nächtlichen Regenerationsgeschehens im Nervensystem aufbauend und lebensfördernd als notwendige Stärkung, die der Mensch für sein tägliches Leben braucht.

Mit diesen Zahlen wird nun in der Hexenküche gespielt.

  • „Die Zwei lass geh'n.“

Damit erfolgt ein klarer Abschied von der höheren Seele. Der Zweifel, der Zwiespalt, das, was die Menschen auf den Weg zum Geist bringt – wird ausgeschaltet. Der Mensch soll zur rein begierdenhaften Naturkraft werden, beherrscht von den Mächten der Natur – eine Art bewusstes Elementarwesen.

  • „Die Drei mach gleich.“

Hier wird dem Ätherleib sein Entwicklungspotential genommen: Genieße dein Leben, lebe es aus, mach' dir keine Gedanken, folge deinen Trieben, beende die innere Spannung in deinem Denken, Fühlen und Wollen. So bist du reich. Dann hast du alles und brauchst nach nichts mehr suchen.

  • „Aus Fünf und Sechs/So sagt die Hex/Mach Sieben und Acht/So ist's vollbracht.“

Keine Entwicklung findet mehr statt.

  • „Und Neun ist Eins.“

Die Zehn und die Eins, als die Repräsentanten von Ursprung und Ziel des Menschen, wurden ausgeschaltet. Die Neun wird zur Eins, nicht mehr die Zehn. Neun ist die neue Eins.

  • „Und Zehn ist keins.“

Zehn und eins sind verschwunden, man hat sich vom Menschenziel verabschiedet. Die Neun ist jetzt die Eins. Was vom Menschen noch übrig ist, kocht als „Suppe“ im Kessel der Hexenküche. Es taugt noch zum Selbstgenuss, zum Erleben der Geschehnisse der Walpurgisnacht, aber nicht mehr zur selbstbestimmten Wandlung und Entwicklung. Und dann wird in der Walpurgisnacht die ganze bunte Landschaft dessen gezeigt, was übrig bleibt, wenn der Mensch die Entwicklung, die Individualisierung seines Ich, verweigert.

Faust versteht nicht ganz, was da geschieht – er bleibt aber wach und sagt zu sich in dieser Situation: „Dass ich mich nur nicht selbst vergesse.“ Er denkt, noch Herr seiner selbst zu sein, bemerkt aber doch, dass er „geschoben“ wird. Und er merkt, dass es sich um eine (schwarze) Messe handelt, um dunkle Magie. Er erlebt angesichts des Bösen eine Erkraftung seines Selbstbewusstseins.

Was Goethe im Bilde der Hexenküche beschreibt und den Faust erleben lässt, zeigt, was geschieht, wenn die Erkenntniskräfte und die Lebensvollzüge nicht in Harmonie mitei-nander sind und dadurch den Menschen körperlich oder seelisch gefährden. Er beschreibt das Geheimnis des Merkurstabs, das sowohl das Geheimnis der Abirrungsmöglichkeiten und Kränkungen umfasst, die im Hexen-Einmaleins angesprochen werden, als auch der Wirkzusammenhänge, von denen alle Gesundung ausgeht.

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015

  1. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, Dornach 1995, S. 170.
  2. Rudolf Steiner, Die soziale Grundforderung unserer Zeit in geänderter Zeitlage, GA 186, Dornach 1990, S. 74 ff.