Raphaels Wirken als Osterimagination

In umfassender Weise beschreibt Rudolf Steiner im Herbst 1923 das Wirken Raphael-Merkurs in der Osterimagination.1 Er stellt dar, wie der Jahreskreislauf Urbild jedes Heilungsvorgangs ist. Was in einer Jahreszeit als Einseitigkeit, und damit als Möglichkeit der Kränkung, entsteht, wird durch eine andere ausgeglichen. Er zeigt auf, wie in den Elementen des Festen und Flüssigen die ahrimanischen Gewalten wirksam sind und die luziferischen in Luft und Wärme. Er macht deutlich, wie die vatergöttliche Naturordnung immer wieder neu die Harmonie, den gesunden Ausgleich, schafft. Im Menschen aber ist diese Ausgleich schaffende Naturordnung nur in der naturgegebenen Körperlichkeit wirk-sam. Da die Wesensglieder „inkarniert“ sind, werden die „Teufel“, die in der Natur einseitig wirkenden luziferischen und ahrimanischen Gewalten, im unbewusst wirkenden Teil der menschlichen Natur ausgeglichen. Im bewussten Gedanken-, Willens- und Gefühlsleben jedoch, wo die Wesensglieder „exkarniert“, d.h. außerkörperlich wirksam sind und vom Menschen selber gelenkt werden müssen, ist der Mensch in die Eigenverantwortung entlassen und damit in jede mögliche Einseitigkeit hinein verführbar. Diese Einseitigkeiten können sich fixieren und den Ausgleich behindern. Der Mensch ist darauf angewiesen, bewusst die Harmonie herstellen zu lernen und die Tatsache seiner vielfältigen Irrtumsmöglichkeiten zu bejahen.

Christus, das heilende Prinzip

Dabei ist Christus der große Helfer. Christus lebt als der dem Menschen verbundene „Herr der Elemente“ und als der „Herr des Karmas“, der „das Buch des Lebens“ führt, in dem jedes „strebende Bemühen“ verzeichnet ist. Er richtet nicht, sondern hilft und „rettet“. Dabei ist Raphael als „christlicher Merkur“ sein Bote, der die in diesem Sinne arbeitende Gemeinschaft der Ärzte und Therapeuten inspiriert:

„Aber jetzt, wo der Mensch in die Freiheit aufgerückt ist, jetzt soll er gerade unter dem Einfluss seiner Freiheit dieses Bedrohliche aus der Welt schaffen, dass ihn Ahriman an die Erdenverhältnisse kettet. Dieses Bedrohliche steht als eine Perspektive der Zukunft vor ihm. Und da sehen wir denn, wie ein Objektives in der Erdenentwickelung geschehen ist: das Mysterium von Golgatha.

Das Mysterium von Golgatha ist nicht als einmaliges Ereignis bloß geschehen. Wohl musste es sich als einmaliges Ereignis hinstellen in das Erdengeschehen, aber es wird dieses Ereignis, dieses Mysterium von Golgatha, jedes Jahr in einer gewissen Weise für den Menschen erneuert. Wer ein Gefühl dafür entwickelt, wie da oben das Luziferische im Kohlensäuredampf ersticken will die physische Menschheit, wie da unten das Ahrimanische im astralischen Regen die ganze Erde so beleben will in ihren Kalkmassen, dass der Mensch sich in ihr zunächst sklerotisiert, auflöst, wer das durchschaut, für den ersteht zwischen dem Luziferischen und dem Ahrimanischen die Gestalt des Christus, die Gestalt des sich von der Materie befreienden Christus, der den Ahriman zu seinen Füßen hat, sich heraus entwickelt aus dem Ahrimanischen, nicht berücksichtigend das Ahrimanische, es überwindend, wie es hier [im Goetheanum, Anm. MG] malerisch und plastisch dargestellt worden ist. Und er sieht diesen Christus, wie er auf der anderen Seite überwindet, was nur eben das Obere des Menschen wegziehen will von der Erde. Es erscheint der Kopf jener Gestalt, die über den Ahriman siegt, es erscheint der Christus-Kopf in einer solchen Physiognomie, in einem solchen Blick, in einer solchen Antlitzgebärde, dass dieser Blick, diese Antlitzgebärde abgerungen ist den verflüchtigenden Kräften des Luzifer. Hereingezogen die luziferische Gewalt in das Irdische, hineingestellt in das Irdische, das ist die Gestalt des Christus, wie er jedes Jahr im Frühling erscheint, wie wir ihn uns vorstellen müssen: Stehend auf dem Irdischen, das zum Ahrimanischen gemacht werden soll, siegend über den Tod, auferstehend aus dem Grab, sich hinauferhebend als Auferstandener zur Verklärung, zur Verklärung, die da kommt durch das Hinüberführen des Luziferischen in die irdische Schönheit des Christus-Antlitzes.

Und so erscheint zwischen dem Ahrimanischen und dem Luziferischen der in seiner Auferstehungsgestalt sich vor das Auge rückende Christus als die Ostererscheinung, die Ostererscheinung, die sich so hinstellt vor den Menschen: Der auferstandene Christus, oben überschwebt von luziferischen Gewalten, unten gegründet auf ahrimanische Gewalten. (...)

Der Mensch und Raphael

Aber es wird in irgendeiner Form noch eine Ergänzung nötig, wenn man die ganze Sache auffasst. Denn alles das, was da geschaut werden kann als das drohende Luziferische, als das drohende Ahrimanische, das ist ja das innere Wesen der Naturkräfte, das ist das, wohin die Naturkräfte tendieren wollen in der Frühlingszeit gegen den Sommer zu, und dem sich gesundend entgegenstellt das heilende Prinzip, das vom Christus ausstrahlt. Aber ein lebendiges Gefühl von alledem wird man erlangen, wenn, nachdem das Ganze architektonisch und plastisch geworden ist und in der Architektur und Plastik dasteht, was ich beschrieben habe, wenn dann in der Zukunft auch noch einmal die Möglichkeit herbeigeführt werden kann, ein Lebendig-Dramatisches vor dieses Plastische hinzustellen gerade zur Osterzeit, ein Lebendig-Dramatisches, in dem namentlich zwei Hauptpersonen sein würden: der Mensch und Raphael. Es müsste sich als eine Art Mysterienspiel gerade innerhalb dieser Plastik und innerhalb dieses Architektonischen abspielen ein Mysterienspiel, Hauptpersonen der Mensch und Raphael, Raphael mit dem Merkurstab, Raphael mit alledem, was sich an den Merkurstab anknüpft. Im Lebendig-Künstlerischen ist alles, alles fordernd, und es gibt im Grunde genommen keine Plastik und keine Architektur, die nicht, wenn sie in ihrem Inneren kosmische Wahrheit ist, fordern würde dasjenige, was künstlerisch drinnen geschieht in einem Raum, der diese Architektur, diese Plastik hat.

Raphael und der Osterkultus

Und zur Osterzeit würde diese Architektur, diese Plastik, ein Mysterienspiel fordern: der Mensch, belehrt von Raphael, inwiefern die ahrimanischen und luziferischen Kräfte den Menschen krankmachen, und inwiefern man durch die Raphael-Gewalt angeleitet werden kann, das heilende Prinzip, die große Weltentherapie, die im Christus-Prinzip lebt, zu durchschauen, zu erkennen. Und wenn dies alles ganz gemacht werden könnte – denn auf das alles war das Goetheanum veranlagt –, dann würde zum Beispiel unter vielem andern dieses stehen, dass alles, was aus den ahrimanischen und luziferischen Geheim-nissen in den Menschen hineinfließen kann, eine gewisse Krönung gerade zur Osterzeit erführe. (...)

Der Weltenheiland wird gefühlt, derjenige, der das große Übel der Erde als Heiland heben wollte, er wird gefühlt. Denn er war ja, wie ich schon öfter dargestellt habe, der große Therapeut der Menschheitsentwickelung. Das wird gefühlt, und ihm wird geopfert mit allem, was man an Weisheit haben kann über Heilwirkungen. Es würde sich das hinein-gliedern in das Ostergeheimnis, in den Osterkult, indem man in Wirklichkeit gerade die-sen Osterkult in dieser Weise so vollbringen würde, so begehen würde, dass er sich in ganz selbstverständlicher Weise in den Jahreslauf einfügte. (...)

Alles das, was, ich möchte sagen, unter der Einwirkung des großen Lehrmeisters Raphael, der eigentlich in christlicher Terminologie der Merkur ist, der im christlichen Gebrau-che den Merkurstab zu tragen hat, alles das, was unter dem großen Lehrmeister Raphael auf diesem Gebiete gelernt werden kann, das kann nur seine würdige Krönung dadurch erlangen, dass es hineingeheimnisst wird in den Osterkultus, der vieles noch umfassen kann, wie ich Ihnen in einer folgenden Betrachtung darstellen werde.“2

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015

  1. Rudolf Steiner, Das Miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen. Vortrag vom 7. Oktober 1923, GA 229, Dornach 1999.
  2. Ebenda, S. 50 ff.