Erziehung mit Bezug auf die Wesensglieder

1. Erziehung auf der Ich-Ebene

Die Ich-Ebene unserer Persönlichkeit wird am unmittelbarsten angesprochen durch das Verhalten der Eltern und der nächsten Personen im Umkreis (vgl. Erziehung: Erziehung und Vorbild). Dabei sind die wichtigsten Erziehungsmittel das „Ja“ und „Nein“, mit denen wir es im Leben ständig zu tun haben. Das Festlegen und Überschreiten von Grenzen sind die bedeutsamsten Maßnahmen für das Ich.

  • Eine Erziehung, die zu enge Grenzen setzt, wirft das Ich zu sehr auf sich zurück und verletzt es ständig, so dass das Selbstbewusstsein stark von Schmerzhaftem geprägt wird.
  • Wenn Grenzen zu locker gehandhabt werden, ist, ein zu schwaches, eher unkonturiertes Selbstbewusstsein die Folge.

Es kommt nicht selten vor, dass Kinder ihre Eltern später fragen, warum sie nicht strenger mit ihnen gewesen waren. Sie würden eine gewisse Willensstärke vermissen und dazu neigen, schnell aufzugeben, weil sie nie Hindernisse und Grenzen überwinden mussten. Aber auch das Gegenteil wird zum Vorwurf gemacht: „Du hast mich so streng gehalten, dass ich mich nicht selbst liebgewinnen konnte. Ich hatte nie so recht Freude an mir und habe mich immer unter Druck gefühlt und meinte immer, anders sein zu müssen, als ich bin.“ Beide Extreme führen auf unterschiedliche Art dazu, dass man sich als Ich nicht richtig in sich beheimaten kann. Dieses Sich-Beheimaten wird am besten dadurch unterstützt, wenn das Ja und das Nein „atmen“, dass Bestätigung und Tadel, Erlauben und Verbieten ihren Rhythmus haben. Die beste Voraussetzung für die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins ist das Erwachen am Nein und das Erstarken am Ja. Lob und Bejahung geben Kraft, der Schmerz weckt dagegen auf. Man braucht Kraft, um Schmerzen ertragen zu können, man braucht aber auch den Schmerz, um sich bewusst zu werden, wofür man die eigene Kraft einsetzen möchte.

2. Erziehung auf der seelischen Ebene

Auf der seelischen Ebene entwickelt sich die Art und Weise, wie wir denken, fühlen und wollen. Seelische Motivation, seelische Erlebnisse und Gefühle werden durch das Leben angeregt (vgl. Gefühle und Fühlen: Anregung der Gefühle durch Sinnesschulung), Gedanken werden durch Lernprozesse bewusst gemacht. Die Seele ist gleichsam eine „schlafende Braut“, die geweckt werden muss. Alle Fähigkeiten, die sich auf sie beziehen, werden uns nicht „anerzogen“, vielmehr wachen wir zu ihnen auf. So nannte schon Platon jegliches Erkennen ein Wiedererinnern an etwas, das unbewusst schon im Menschen ruht. Rudolf Steiner beginnt sein Schulungsbuch „Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten?“ mit den Sätzen:

„Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann. Der Mystiker, der Gnostiker, der Theosoph sprachen stets von einer Seelen- und einer Geisterwelt, die für sie ebenso vorhanden sind wie diejenige, die man mit physischen Augen sehen, mit physischen Händen betasten kann. Der Zuhörer darf sich in jedem Augenblicke sagen: Wovon dieser spricht, kann ich auch erfahren, wenn ich gewisse Kräfte in mir entwickele, die heute noch in mir schlummern. Es kann sich nur darum handeln, wie man es anzufangen hat, um solche Fähigkeiten in sich zu entwickeln.“ 1

Jeder Mensch bringt eine Fülle von unbewussten Fähigkeiten mit und es hängt nun von den Lebensumständen ab, was ihm davon zu Bewusstsein kommt, um damit von ihm erlebt und gehandhabt zu werden. Eigenschaften oder Fähigkeiten, die uns durch kein Erlebnis, keinen Lernvorgang bewusst werden, sind uns – zumindest für dieses Leben – nicht zugänglich. Durch Selbsterziehung und Lebenserfahrung kann später noch vieles aktiviert und ausgeglichen werden, was vielleicht durch die Art, wie Kindheit und Jugend verlaufen sind, nicht oder nur teilweise bewusst werden konnte (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Der individuelle Schulungsweg).

Das Hauptproblem bei der Erziehung der Seele ist jedoch, dass sie nicht zu früh, aber auch nicht zu spät geweckt werden sollte. Wenn bestimmte Gedanken zu früh hervorgebracht, gewisse Information zur Unzeit gegeben werden, sodass sie gefühlsmäßig noch nicht verarbeitet werden können, stellen sie eine Belastung dar und schädigen die seelische Entwicklung. Aus Einsicht sollten wir daran arbeiten, Lernschritte und Ereignisse, soweit irgend möglich, altersentsprechend und damit förderlich an das Kind heranzutragen (vgl. Erziehung: Entwicklungsphasen und Pädagogik) und nicht einfach alles zuzulassen, was heute möglich ist.

3. Erziehung auf der Lebens(kräfte)ebene

Eine dritte Ebene der kindlichen Erfahrung ist die unbewusste Sphäre der Lebenskräfte. Sie betrifft die dem Körper innewohnende Regenerationskraft und Gesundheitsdisposition und wird gepflegt durch Eigenschaften und Verhaltensweisen, die dem Leben verwandt sind. Dazu gehören insbesondere der Rhythmus von Essen und Schlafen, von Ruhe und Erholung, von Alltag und Sonntag und überhaupt alles Gewohnheitsmäßige (vgl. Lebensrhythmen: Pflege von Lebensrhythmen1 in der Kindheit). Gerade die Lebenssphäre ist auf die Wiederholung der immer gleichen Vorgänge angewiesen. Krankheit zeigt sich ja dadurch, dass plötzlich etwas aus der Bahn läuft und „nicht so wie gewohnt“ ist.

So ist auch die Pflege des religiösen Lebens mit seinen vielen Wiederholungen – den immer gleichen Gebeten, den wiederkehrenden Festen, den vertrauten Liedern, den bekannten Geschichten – von größtem Wert gerade für die Lebenstüchtigkeit (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Ätherleibes).2 Das betrifft auch das künstlerische Üben und das Erleben von Kunsteindrücken. Je häufiger und regelmäßiger diese Eindrücke wirken, umso größer ist ihr Einfluss auf die Lebenstätigkeit des Organismus bzw. auf den ätherischen Leib.

4. Erziehung auf der physischen Ebene

In seiner Schrift „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft“ 3 führt Steiner Freude, Heiterkeit und eine liebevolle Umgebung als Förderungsmittel für die körperliche Entwicklung, insbesondere in der Vorschulzeit, an (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des physischen Leibes).

Wie wurde der physische Leib behandelt?

Wie wurde er gepflegt?

Wie waren die Stimmungen dabei?

Was hat dazu beigetragen, dass man lernte, sich in diesem physischen Leib wohlzufühlen?

Wie verlief die Bewegungsentwicklung?

Welche Bewegungsfreiheit wurde gewährt?

Was trug dazu bei, dass man seinen Körper bis heute hasst und weder schön noch tüchtig genug findet?

Welche Sinneseindrücke wurden ermöglicht und regten den Organismus zur Nachahmung und damit zum Tätig-Werden an?

Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass jede Tätigkeit, die der physische Leib im Wachstumsalter verrichtet, als Bildeimpuls auf ihn zurückwirkt: Ohne dass das Sehen geübt wird, kann sich kein gesundes Auge entwickeln. Ohne dass das Gehen geübt wird, entwickelt sich kein gesundes Skelettsystem usw.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997**

  1. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10.
  2. Vgl. Michela Glöckler, Die Heilkraft der Religion. Stuttgart 1997.
  3. Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft, GA 34.