An der Todesschwelle

Sind Verwirrtheit im Alter und Menschenwürde ein Widerspruch?

Was bringen Erfahrungen im Koma für alle Beteiligten?

Wie wirken Erfahrungen an der Schwelle sich im Nachtodlichen aus?

Warum ist der Hirntod zu kurz gegriffen?

Der Sinn von komatösen und verwirrten Zuständen

Bei schwerer Krankheit oder komatösen Zuständen stellt sich die Sinnfrage auf besonders schmerzliche Weise (vgl. Krankheit: Grundlegendes zum Sinn von Krankheit). Keiner wünscht sich Zustände dieser Art zu durchleben, und so wünscht es auch keiner dem anderen – es besteht bei vielen Menschen sogar eine instinktive Neigung, dem anderen zu helfen, diesen quälenden Zustand zu beenden. Aus diesem Empfinden heraus hat sich nicht zuletzt auch die ethische Diskussion um die Sterbehilfe entwickelt. Auch hier wird man ohne ein Studium der geisteswissenschaftlichen Tatsachen zu keinen wirklichkeitsgemäßen Vorstellungen und Empfindungen kommen können.

Was bedeutet es zum Beispiel für das Karma eines Menschen, der sein Leben lang kraftvoll und selbstbewusst seine Arbeit verrichtet hat und immer in der Anschauung lebte, andere Menschen nicht zu brauchen und stets der Gebende zu sein, wenn er im Alter eine längere Periode, vielleicht sogar Jahre durchleben muss, in denen er pflegebedürftig wird, vielleicht sogar geistig hilfsbedürftig, weil er verwirrt ist und das Gedächtnis verliert?

Vom Erdenaspekt aus erlebt er nun – wenn auch unbewusst – welche Gnade es ist, dass andere Menschen für einen da sind und dass man als Mensch auch lernen darf, Hilfe anzunehmen und dass man dabei ganz andere Erfahrungen macht als beim Geben. Denn aus der geistigen Perspektive sind ihm diese Zusammenhänge bewusst. Ganz abgesehen davon bekommen die Menschen, die dem Betreffenden karmisch verbunden sind, auf diese Weise die Möglichkeit, ihre Beziehung zu ihm noch einmal ganz neu zu überdenken und manches auszugleichen, was während des Lebens unausgeglichen geblieben ist.

Hirntod aus geisteswissenschaftlicher Sicht

Beim Bedenken dieser Fragen können die Leitsätze Rudolf Steiners über die Bildnatur (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit) eine große Hilfe sein1. Denn dort wird dargestellt, dass das Ich des Menschen in drei Bereichen des dreigegliederten Organismus ich-haft – wenn auch nicht wachbewusst – anwesend ist:

  • im Kopfbereich als sich seiner selbst bewusstes Sinnes-Ich,
  • im rhythmischen System als träumendes Fühlen,
  • und im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System als schlafendes Wollen.

Das Ich erlebt beim Träumen und Schlafen sehr wohl aktiv mit, was mit dem Leib geschieht. So gesehen ist der Begriff des „Hirntodes“ ein völliger Unbegriff. Denn die Ich-Anwesenheit im rhythmischen System und im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System ist dann noch immer gegeben. Der Betroffene ist – wie einmal sehr schön in einer Zeitung zu lesen war – eine „stille Persönlichkeit“ geworden. Das wach reagierende Alltags-Ich, das sein Bewusstsein am Nerven-Sinnes-System gespiegelt hat, ist zwar ausgelöscht. Die beiden anderen Bewusstseinszentren im rhyth¬mischen System und im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System nehmen dafür umso tiefer wahr. Erst dieser Aspekt der Dreigliederung2, das Wissen um die drei Bewusstseinszentren des Ich (wachendes Denken, träumendes Fühlen, schlafendes Wollen), führt zu einem menschenwürdigen Verständnis des so genannten Hirntodes.

Vom Sinn des Wartens auf den Todesaugenblick

Unter diesem Aspekt muss z.B. auch vollständig neu überdacht werden, ob die Beatmung bei einem komatösen Patienten fortgesetzt werden soll oder nicht, oder was geschehen soll, wenn eine sogenannt hirntote Frau ein Kind im Leib trägt, das lebt und regsam ist. Von Tod im geisteswissenschaftlichen Sinne kann erst gesprochen werden, wenn die Rückschau nach dem vollständigen Ablegen des physischen Leibes beginnt, indem sich der Ätherleib auflöst (vgl. Sterben und Tod: Dreifacher Tod).

Diese Herauslösung des Ätherleibes kann aber erst einsetzen, wenn Herzschlag und Atmung aufhören und die Trennung des Seelisch-Geistigen vom Leiblichen vollzogen ist: Nachdem sich der Lebensrückblick in den ersten drei Tagen und Nächten nach Eintritt des Todes vollzogen hat, gibt der ätherische Leib seine vermittelnde Tätigkeit zwischen dem Seelisch-Geistigen und dem Physischen auf und zieht sich wieder in die Weltenweiten zurück3 (vgl. Sterben und Tod: Auflösung des ätherischen Organismus). Für Menschen, die etwas feinfühliger sind, ist die erlebende Anwesenheit des seelisch-geistigen Wesens des Kranken durchaus spürbar, auch wenn er tief schläft oder im Koma liegt (vgl. Begabung und Behinderung: Das Ich im Kontext von Behinderung und Begabung). Das unter Umständen wochenlange Warten auf den Todeszeitpunkt wird für die Betroffenen in jedem Falle etwas anderes bedeuten.

Sterben als Einweihung

Aus den Schilderungen Rudolf Steiners über das Sterben und das nachtodliche Leben geht deutlich hervor, dass es sich hierbei um tiefgreifende Einweihungserlebnisse handelt, um ein Stehen an der Todesschwelle zwischen der physischen und der geistigen Welt, mit einer Fülle an seelischen und geistigen Erfahrungen. Dasselbe geht auch aus Schilderungen von Patienten hervor, die nach komatösen Zuständen oder Wiederbelebungsmaßnahmen wieder voll zu Bewusstsein gekommen sind. Gerade eine solche Betrachtung kann verständlich machen, warum auch das Erleiden einer Krankheit als physische Erfahrung von unschätzbarem geistigem Gewinn ist. Denn alles, was das Ich im Willensbereich des Stoffwechsels unbewusst erlebt (vgl. Krankheit: Krankheit als Erkenntnisweg der Natur), wird ihm nachtodlich, durch die Hilfe der Wesenheiten in der Planetensphäre des Merkur, zu einer bewussten und beglückenden, umfassenden Erkenntnis, die ihn durch das ganze weitere nachtodliche Leben begleitet4.

Einsichten dieser Art führen zu einem ganz neuen Verständnis der Vorgänge auf Intensivstationen von Krankenhäusern – insbesondere deshalb, weil wir wissen, dass auf den Intensivstationen, trotz aller Beatmungs- und Infusionstechnik, der Tod jederzeit eintreten kann, wenn das Leben eines Menschen wirklich vollendet ist. Intensivmedizinische Maßnahmen können einem Kranken zwar eine physische Stütze geben, dass die höheren Wesensglieder sich im physischen Leib halten können. Niemals kann jedoch das Leben dieser höheren Wesensglieder im Leib „erzwungen werden“.

Wenn die Todesstunde eines Menschen gekommen ist, versagt das rhythmische System und der Herzschlag setzt aus oder eine andere unvorhersehbare Komplikation tritt ein und der Tod ist unaufhaltbar trotz aller ärztlichen Kunst und Technik. Diese Tatsache wird nicht oft genug dargestellt, sodass bei vielen Menschen heute die Illusion entsteht, Ärzte könnten willkürlich Leben verlängern. Sie können vielmehr durch Entzug von Beistand Leben willkürlich beenden helfen – mit den entsprechenden Schicksalsfolgen.

Leidvolle Zustände als Vorbereitung

Die Tatsache, dass sehr viele Menschen heute so alt werden und häufig im Alter leidvolle Zustände an der Schwelle zwischen Sinnes- und Geisteswelt durchmachen, kann auch zu der Frage führen, ob sich darin nicht die Sehnsucht der heutigen Menschheit manifestiert, diese Schwellensituation (vgl. Schwellenerfahrung: Die Schwelle zur geistigen Welt) deutlich zu erleben – auch wenn es nicht mehr mit wachem Erdenbewusstsein geschehen kann.

Hier erwächst uns die Aufgabe, diese verwirrten oder „stillen“ Persönlichkeiten mit besonderer Liebe und spirituellem Verständnis zu begleiten (vgl. Demenz: Würdige Pflege demenzkranker Menschen). Nach dem Tode werden ihnen diese Erfahrungen dann bewusst und dienen der Vorbereitung eines darauffolgenden geistorientierten Erdenlebens.5 So können wir z.B. auch fragen:

In welche Schule ist ein Mensch zuvor gegangen, der hochbegabt geboren wird und nur weniger Hilfen bedarf, um sich verschiedenste Fähigkeiten anzueignen?

Was in einem Leben auf der körperlichen Ebene unbewusst im Willen durchgemacht wurde, wird in einem anderen Leben zu bewusstem Erleben und Können (vgl. Schicksal und Karma: Konsequenzen von Handlungen und Lebensgewohnheiten für den weiteren Verlauf des Schicksals). Dass in unserem Jahrhundert die Notwendigkeit eingetreten ist, uns des Stehens an der Schwelle bewusst zu werden, ist offensichtlich (vgl. Schwellenerfahrung: Symptome des unbewussten Schwellenübertritts). Weil es jedoch aus eigenem Antrieb immer noch viel zu wenig geschieht, treten zunehmend Grenzerlebnisse und Schwellensituationen auf, durch die der nähere und weitere Umkreis von Betroffenen angeregt wird, über Fragen dieser Art nachzudenken. So wird Schwellenbewusstsein durch leidvolle Erfahrungen geweckt.

„(...) die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, dass der Mensch lerne, mit der geistigen Welt ebenso zu leben, wie er hier auf der Erde mit der physischen Welt lebt. Und nur dadurch, dass wir gewissermaßen als Menschheit wiederum in der geistigen Welt heimisch werden, wie es die Urmenschheit war, indem wir richtig begreifen das Christus-Wort: ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt‘, werden wir die Zukunft der Menschheit fördern.“6

Vgl. 4. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993

  1. Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze, Leitsätze Nr.35-37.
  2. Vergl. Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln. GA 21.
  3. Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9, Die drei Welten.
  4. Rudolf Steiner, Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen, GA 141.
  5. Vergl. Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln. GA 21.
  6. Rudolf Steiner, Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus, GA 218, 1992, Vortrag vom 19. November 1922 in London.