Vom Ungeboren-Sein sprechen

Mit diesem Text sei an eine Aufgabe erinnert, die Rudolf Steiner in seinem Dornacher Vortrag vom 13. März 1921 anspricht10:

„Suchen Sie aber in den Kultursprachen ein gangbares Wort für ‚ungeboren‘! ‚Unsterblich‘ haben Sie überall, aber ‚ungeboren‘ haben Sie nicht. Das Wort ‚ungeboren‘ brauchen wir; das muß ebenso ein gangbares Wort sein in den Kultursprachen, wie das Wort ‚unsterblich‘, das die Sprachen schon haben. Daran zeigt sich die Verahrimanisierung der modernen Zivilisation. Es ist eines der wichtigsten Symptome für die Verahrimanisierung der modernen Zivilisation, dass wir kein Wort haben für das Nichtgeborensein. Denn ebensowenig wie wir mit dem Tode der Erde verfallen, ebensowenig sind wir mit der Geburt oder mit der Empfängnis erst entstanden. Wir müssen ein Wort haben, das deutlich hinweist auf die Präexistenz. Man darf überhaupt nicht unterschätzen die Bedeutung, welche im Worte liegt.

Sie mögen noch so viel denken, noch so scharfsinnig denken, so ist etwas in Ihnen, das eben intellektualistisch in dem Menschen ist. In dem Augenblicke, wo sich der Gedanke umprägt zum Worte, selbst wenn das Wort als solches nur gedacht wird, wie in der Wortmeditation, in demselben Moment prägt sich das Wort ein in den Äther der Welt. Der Gedanke prägt sich als solcher nicht in den Äther der Welt ein, sonst könnten wir niemals im reinen Denken freie Wesen werden. Wir sind ja in dem Augenblicke gebunden, wo sich etwas einprägt. Wir sind ja nicht durch das Wort frei, sondern durch das reine Denken – das können Sie in meiner „Philosophie der Freiheit“ des weiteren ersehen –, aber das Wort prägt sich dafür in den Weltenäther ein.

Entscheidender Kampf gegen die ahrimanischen Mächte

Nun bedenken Sie: Für die Initiationswissenschaft liegt ja heute einfach die Tatsache vor, dass im ganzen Erdenäther dadurch, dass die zivilisierten Sprachen kein gangbares Wort für Ungeborenheit haben, dieses für die Menschheit wichtige Ungeborensein überhaupt nicht dem Weltenäther eingeprägt wird. Alles das aber, was an wichtigen Worten eingeprägt wird in den Weltenäther vom Entstehen, von alldem, was den Menschen betrifft in seiner Kindheit, in seiner Jugend, all das bedeutet einen furchtbaren Schrecken für die ahrimanischen Mächte. Unsterblichkeit im Weltenäther eingeschrieben, das vertragen die ahrimanischen Mächte eigentlich sehr gut, denn Unsterblichkeit bedeutet, dass sie mit dem Menschen eine neue Schöpfung beginnen und mit dem Menschen hinauswandern wollen. Das irritiert die ahrimanischen Wesenheiten nicht, wenn sie immer wieder den Äther durchsausen, um mit dem Menschen ihr Spiel zu treiben, wenn da so und so viel von den Kanzeln von Unsterblichkeit verkündet wird und in den Weltenäther eingeschrieben wird. Das tut den ahrimanischen Wesen sehr wohl. Aber ein furchtbarer Schrecken für sie ist es, wenn sie das Wort ‚Ungeborenheit‘ in den Weltenäther eingeschrieben finden. Da löscht für sie überhaupt das Licht aus, in dem sie sich bewegen. Da kommen sie nicht weiter, da verlieren sie die Richtung, da fühlen sie sich wie in einem Abgrund, wie im Bodenlosen. Und daraus können Sie ersehen, dass es eine ahrimanische Tat ist, die Menschheit davon abzuhalten, vom Ungeborensein zu sprechen. (...) Es ist im Grunde genommen nichts Geringeres als der Kampf gegen die ahrimanischen Mächte, den wir selber aufnehmen müssen.“

Vgl. 4. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993**

  1. Rudolf Steiner, Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung, Vortrag vom 13. März 1921 in Dornach. GA 203.