Gedanken als Brücke zur Geisterfahrung

Am Ausgangspunkt unserer Betrachtung steht der Ausspruch aus dem Evangelium: „Ich bin das Licht der Welt.“1 Wer versucht, diesen Gedanken meditativ aufzuschließen, wird entdecken, dass das Denken selbst Lichtnatur hat (vgl. Ideale: Die besondere Natur der Ideale).

Tatsächlich kann das Gedankenlicht in die Dunkelheit eines jeden Missverständnisses und Unverständnisses klärend hereinleuchten. Eine solche Betrachtung bringt nicht nur neue schöpferische Gedanken hervor, sondern wirkt auch belebend und anregend auf das Leibesleben zurück. Hierdurch wird die Realität der „geistigen Ernährung“ erfahrbar: Wir verbinden uns durch das Denken mit geistigen Kräften und treten durch ein solches meditatives Bemühen in unmittelbare Wechselwirkung mit den in den Gedanken sich offenbarenden und wirkenden geistigen Wesen. Das bedeutet Hilfe und Stärkung.

Betrachtungen dieser Art weisen auf die geistige Dimension der menschlichen Freiheit hin: dass Gott und mit ihm die Wesen der geistigen Welt des Menschen Freiheit nicht nur respektieren, sondern auch wollen, indem sie sich dem Menschen, nachdem er geschaffen wurde und sich entwickelt hat, nur noch durch das Denken nähern. Nun hängt es vom Menschen selber ab, mit welchem Gedanken und dem damit verbundenen geistigen Wesen er sich befassen will oder nicht. Wer sich dessen bewusst wird, erlebt die unmittelbare Nähe und Hilfe der geistigen Welt. Wer nicht willens ist, die geistig wirksamen Kräfte in den Gedanken zu entdecken und für das Leben fruchtbar zu machen, erfährt aber auch, wie ferne ihm die geistige Welt ist.

Auch für das soziale Leben haben Betrachtungen dieser Art eine Bedeutung. Denn Gedanken, die von Menschen ausgehen, haben eine wesenhafte Wirkung, indem sie andere Menschen stärken oder schwächen können.

Wer fühlt nicht die bösen Gedanken oder die neidischen, hasserfüllten Überlegungen eines anderen Menschen, die sich verletzend in sein Wesen hineinbohren?

Wer fühlt umgekehrt nicht das Stärkende und Beglückende, wenn einen liebevolle Gedanken begleiten?

Gedanken sind eben konkrete Kräfte, die in Lebenszusammenhänge eingreifen können, je nachdem, welche Wesenheit in ihnen wirkt oder mit ihnen verbunden ist. Es geht darum, diese Kraftnatur der Gedanken (vgl. Gedankenkraft: Engel und Gedankenleben) zu verstehen und aus der so gewonnenen Einsicht zu handeln. Das wird zu einer neuen sozialen Hygiene führen und zu einer neuen Behutsamkeit im Umgang mit den Realitäten des eigenen Denkens. Die soziale Tragweite des eigenen Denkens wird dem Betreffenden immer mehr bewusst werden.

Gedankenkraft als reale Kraft erfahren

In Zukunft brauchen wir die Einsicht in diese Zusammenhänge auch aus dem Grunde, weil wir anders nicht mehr mit den Schäden unserer Zivilisation fertig werden. Wir werden zunehmend gezwungen sein, uns über diejenigen Kräfte Gedanken zu machen, die letztlich Wachstum, Gesundheit, Regeneration ermöglichen, und werden mit ihnen dann auch immer heilsamer und aufbauender umzugehen lernen (vgl. Gesundheit: Gesundheit und Denken). Auf der anderen Seite werden destruktive und kritische Gedanken zunehmend ihre schädigende Wirkung zeigen. Es ist geradezu notwendig, dass der Mensch sich über die Natur seines Denkens aufklärt und lernt, dass es weder für ihn noch für die Welt gleichgültig ist, was er vom Morgen bis zum Abend in seinen Gedanken bewegt. Denn alles, was wir denken, bringt uns in Beziehung zu der Wirklichkeit, über die unseren Gedanken zugrunde liegt. Diese Wirklichkeit beeinflusst uns und wird gleichsam Teil unseres Wesens. Es ist entscheidend, mit welchen Gedanken wir zu welchen natürlichen oder geistigen Weltvorgängen und Wesen in Beziehung stehen. Das zu wissen ist nicht nur aus kinderärztlicher oder pädagogischer Sicht wichtig, sondern ganz besonders auch hinsichtlich der zeitgeschichtlichen Situation. Wir brauchen gute Ideen und aufbauende Gedanken, um den Zerstörungsprozessen, Natur und Mensch betreffend, entgegenwirken zu können.

Ich-Bewusstsein durch Körper und Geist

Alle Stoffe und Vorgänge in der Natur gipfeln letztlich im Menschen – in dem Ausspruch: „Ich bin ich“ (vgl. Wesensglieder: Grundlegendes zum Thema Wesensglieder). Durch den mit diesem Ausspruch verbundenen Gedanken ist der Mensch eingegliedert in die Gedanken und Gesetze der gesamten Welt. Er steht damit in Beziehung zu jedem Wesen, zu jedem Vorgang, soweit sich dieser gedanklich äußern bzw. fassen lässt. Die ewige und wahre Heimat des menschlichen Ich ist die geistige Welt der Gedanken und das geistige Leben der Gedanken, an dem das Ich teilhat.

Der Körper gibt dem Ich dagegen die Möglichkeit, sich als ein seiner selbst bewusstes, von der übrigen Welt abgegrenztes, zur Einsamkeit befähigtes Wesen zu erleben (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des physischen Leibes). Nur dank unseres leibgebundenen Selbstbewusstseins, können wir wirklich allein sein. In dem Augenblick, in dem wir uns als geistige Wesen erfahren, erleben wir uns unmittelbar in Beziehung miteinander und einverwoben in die geistigen Realitäten des Daseins. Wir verdanken der körperlichen Entwicklung die Möglichkeit, zu der uns innewohnenden geistigen Kraft „ich“ zu sagen und das Bewusstsein, eine abgegrenzte Persönlichkeit zu sein, als starke Qualität in unser geistiges Leben aufzunehmen. Wenn nun die geistigen Kräfte freiwerden für die gedankliche Arbeit (vgl. Wesensglieder: Die Metamorphose der Wesensglieder in leibfreies Denken, Fühlen Und Wollen), können wir von einem individuellen Ausgangspunkt aus den Zusammenschluss mit der Welt erneut suchen und realisieren.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart**

  1. Joh 8,12