Die Wirksamkeit des Geistes und Denken

Was ist Geist?

Unser Geist ist für uns etwas so Selbstverständliches, etwas so Alltägliches wie unser Körper und unser persönliches Seelenleben. Das Geistige in der Welt und in uns ist die in allem wirksame Gesetzmäßigkeit, über die wir Menschen erst die geistige Dimension erfassen können. Indem wir sie in bewusster Weise denken, finden wir einen allerersten Zugang dazu. Wenn wir über etwas nachdenken, haben wir immer das Bestreben, das Richtige zu denken und uns keinen Illusionen hinzugeben. Wenn wir uns im besten Falle wirklichkeitsgemäße Gedanken über die Welt und uns selbst machen, stimmt das, was wir denken, mit dem, was wirklich ist, überein. Nun gibt es ganz verschiedene Arten zu denken:

  • Exaktes Nachdenken

Wir können über die äußere Welt und die in der Natur wirksamen Naturgesetze nachdenken. Auf diesem Felde sind wir heute schon ziemlich weit gekommen. Wir können alles denken: die Gesetze der Aerodynamik, der Thermodynamik, der Physik, der Mathematik, der Chemie. Weltweit, ob in China, in Amerika, in den Laboratorien der UdSSR oder in Prag, man forscht an denselben Objekten und Themen und tauscht sich auf großen internationalen Symposien – unabhängig vom politischen System – darüber aus. Hier zeigt sich eine Übereinstimmung von Gedanken und gegenseitiges Verstehen über alle persönlichen, ideologischen und nationalen Interessen hinweg. In manchen Bereichen verstehen sich die großen Forscher aller Kontinente und aller Regimes mit derselben Selbstverständlichkeit wie zwei Schulkinder, die herausbekommen haben, dass 2 X 2 gleich 4 ist.

Beim Nachdenken wird uns die Übereinstimmung von unserem Denken mit den Gesetzen der sichtbaren Natur deutlich. Es liegt in der Natur des menschlichen Denkens, dass jedes Weltgesetz darin wiedergefunden werden kann. Als mir das als junger Mensch bewusstwurde, fühlte ich mich zum ersten Mal auf dieser Erde so richtig zu Hause. Ich hatte mir immer eingeredet, ich wäre letztlich heimatlos und allein, von der Welt abgetrennt und unfähig, etwas zu ihrem Gedeihen beizutragen – und erkannte nun, dass das ein Irrtum war. Denn über das Denken können wir mit allem, was es gibt, in Beziehung treten. In Gedanken lässt sich alles nachvollziehen, was in der Welt geschieht. Wir können die Übereinstimmung erleben zwischen den Gesetzen, die in unserem Denken wirksam sind und denjenigen, die in der Welt wirksam sind. Das führt zu einem Gefühl tiefen Verbunden-Seins mit allem Geschehen, mit der Entwicklung der Erde und den Wesen, die auf ihr leben.

  • Schöpferisches Vorausdenken

Wir haben als Menschen aber auch die Fähigkeit voraus zu denken, indem wir uns z.B. die Frage stellen:

Wie wird die Welt in zehn Jahren aussehen, wie sollte sie aussehen?

Wie will ich mein Leben in den nächsten Jahren gestalten?

Solche Fragen appellieren an unsere visionäre Kraft, die nicht nur passiver Zuschauer eines sich entrollenden Geschehens ist, sondern aktiver Mitgestalter von Zukunft. Insofern ist sind eine Überleitung zu einer dritten Art des Denkens:

  • Idealistisches Denken

Ideale können wir nicht mit Augen sehen oder mit Händen greifen. Sie sind ideeller Natur und können nur rein gedanklich erfasst werden. Sie existieren für uns schlicht nicht, wenn wir sie nicht bewusst denken. Viele, die Schweres in ihrem Leben durchgemacht haben, haben erlebt, dass das, was sie durchhalten ließ, was sie getragen hat, ihre Ideale waren. Ideale können zu einem Lebensmotiv werden, dem man sich immer verbunden fühlt.

Das Ideal der Liebe, bzw. der Treue, der Freundschaft oder der Güte, kann von uns in einem ersten Schritt bloß gedacht werden. Es kann aber auch zu etwas Verbindlicherem für uns werden, indem wir es in einem nächsten Schritt allen inneren Widerständen zum Trotz zu verwirklichen versuchen.

Zwei Aspekte des Geistes

Über unser Denken haben wir also Zugang zu zwei Aspekten des Geistes:

  1. zu dem in der sichtbaren Natur und damit auch im menschlichen Leib wirksamen Geist

  2. und zu dem geistigen Aspekt, der sich nur dem denkenden Bemühen erschließt, wenn wir über Ziel und Form des Lebens nachdenken, uns für Ideale begeistern (vgl. Ideale: Ideale als Kraftquelle).

Indem wir das tun, stellen wir der Naturordnung eine moralische Ordnung an die Seite.

Im Zusammenhang mit Idealen, mit den ethischen Werten des Lebens, sprechen die Religionen und Philosophien auch oft von Einsichten, Intuitionen oder Offenbarungen. Rudolf Steiner wies darauf hin, dass Ideale gedankliche Offenbarungen geistiger Wesen sind (vgl. Ideale: Die besondere Natur der Ideale). Er schilderte auch, welche geistigen Wesen sich uns Menschen nähern, wenn wir dieses oder jenes Ideal erstreben. Wenn wir unser Denken zur Imaginations-, Inspirations- und Intuitionsfähigkeit weiterbilden,1 können wir die Wirklichkeit der geistigen übersinnlichen Welt in ähnlicher Weise erforschen, wie man über ein Naturgesetz Zugang zur Natur bekommt.

Pädagogische Herausforderung

Menschen, die sich kaum Gedanken über die Welt machen, werden in ihrer Seele auch keine befriedigende Übereinstimmung mit den Weltgesetzmäßigkeiten erleben. Sie befassen sich hauptsächlich mit ihren leiblichen Bedürfnissen, sind auf ihr eigenes Wohlergehen fixiert. Ihr Seelenleben ist verarmt, weil der Seelenraum nur das enthält, was jemand tief gefühlt und dadurch verinnerlicht hat. Das lässt die Größe der sozialen und pädagogischen Herausforderung unserer Zeit erahnen (vgl. Erziehung: Dimensionen der Erziehung). Denn das Lebensglück eines Menschen hängt nicht allein von der Befriedigung seiner Bedürfnisse ab, sondern noch mehr davon, in welches Verhältnis er sich zur Welt zu setzen vermag.

Und DAS ist eine Frage der Erziehung: ob man angespornt wurde, sich mit geistigen Inhalten, sprich: mit Wahrheiten dieser Welt, und mit Menschheitsfragen auseinanderzusetzen (vgl. Erziehung: Erziehung zur Weltzugewandtheit). Eine solche Art der Erziehung bringt einen lebenslangen Prozess in Gang. Wenn man ein Leben lang Freude am Lernen hat und sich gerne mit dem, was Welt und Leben an Herausforderungen und Erfahrungen zu bieten haben, befasst, wird man sich in jeder Lebenslage zurechtfinden.

Vgl. Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987

  1. Vgl. Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13.