Geisterkenntnis und Freiheit

Warum gehören Geisterkenntnis und Freiheit unbedingt zusammen?

Warum darf sich die Existenz des Geistigen nicht beweisen lassen?

Wir leben heute in einer Zeit, in der sich Naturwissenschaft und Geisterkenntnis weitgehend verständnislos gegenüberstehen. Die in der Neuzeit vorgenommene Spaltung von Glauben und Wissen hat sich in einer Weise vertieft, dass es zu einer Frage der Volksgesundheit geworden ist, ob diese Spaltung überwunden werden kann oder nicht. Denn das Erleben der Geistlosigkeit und damit auch der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz treibt ungezählte Menschen in Krankheit, Drogenabhängigkeit oder Selbstmord.

Wie will man als Mensch ein gesundes Selbstbewusstsein erringen (vgl. Selbstbewusstsein: Selbstbewusstsein über den Tod hinaus), wenn an die Stelle des tätigen Menschen-Ich als eines realen geistigen Wesens die abstrakte Person tritt, deren Existenz mit dem Tode endet, da sie nur als das Ergebnis molekularer neurophysiologischer Vorgänge gesehen wird?

Und wie kann die Menschenwürde erhalten bleiben, wenn an die Stelle folgenreicher Schicksalserfahrungen (vgl. Schicksal und Karma: Ich-Erleben und Schicksalsgestaltung) die Worte „Zufall“, „Glück“ oder „Pech“ als einzig wissenschaftlich vertretbares Erklärungsmodell treten, bzw. aus wissenschaftlicher Bescheidenheit und Selbstbeschränkung heraus nicht weiter verfolgt werden können, da sie einer echten wissenschaftlichen Behandlung ohnehin nicht zugänglich sind?

Angesichts der akademisch geförderten Aufspaltung zwischen „sicherem Wissen“ und „beliebigem, ungewissem Glauben“ erhebt sich die Frage, warum das so gewollt wird:

Entspringt dieses Phänomen eventuell dem unbewussten Drang, selber zu bestimmen, wann man als einzelner Mensch die Frage nach der eigenen geistigen Identität stellt?

Und ist vielleicht die unwissenschaftliche Glaubenswelt dafür da, uns Trost zu spenden, solange wir diese Frage noch nicht stellen wollen, solange wir nicht bereit sind, die volle Verantwortung zu übernehmen für das, was wir Natur und Mensch antun als negative Folgen und praktische Konsequenzen der materialistischen und reduktionistischen Sichtweise der heutigen Wissenschaft?

Es gibt einen schönen lebenspraktischen Spruch: Wer will, findet Wege – wer nicht will, findet Gründe. Ich habe ihn erstmals von Götz Werner, dem Begründer der Drogeriemarktkette „dm“, gehört. Wer einen wissenschaftlichen und zugleich empirischen Weg zur Wirklichkeit des Geistes sucht, kann diesen – wenn er wirklich will – u.a. in der anthroposophischen Geisteswissenschaft finden. Für den, der ernstlich will, ist es nicht schwer, die Brücke zwischen Materie und Geist zu finden. Warum nicht? Weil sie in unserem eigenen Denken gegeben ist (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen), und damit kann sie zu einem inneren Evidenzerlebnis werden, ohne dass es äußerer Beweise bedarf.

Dazu ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, die schwerwiegendste Existenzfrage, wie die Frage nach Gott und den Wesen der höheren Hierarchien bzw. überhaupt nach der Realität des Geistigen und der wahren Natur der Materie, könnte von einem Menschen so schlüssig dargelegt werden, dass jeder Widerspruch in sich zusammenfallen müsste; die Existenz des Geistes als von der Materie unabhängige und dennoch die Materie beherrschende Realität wäre unumstößlich bewiesen.

Was wäre die Folge?

Was würde das für uns alle bedeuten?

Jeder Zweifel an der Existenz des Geistes müsste schwinden, wenn seine Bedeutung mit äußeren Mitteln zwingend bewiesen wäre. Damit hätten wir Menschen aber auch keine Möglichkeit mehr, in Freiheit und selbstbestimmt den Weg zu uns selbst und zum Wesen der Welt zu gehen.

Es gehört zu den größten Wundern des menschlichen Erkenntnislebens, dass jeder einzelne Mensch selbst um Selbsterkenntnis ringen muss und nur so die Frage nach dem wahren Wesen des Menschen beantworten kann. Das kann keiner einem anderen abnehmen. Wir können uns zwar dabei helfen, die letzte Gewissheit muss jedoch jeder für sich selbst erringen und erfahren.

Rudolf Steiner formuliert das in seiner „Philosophie der Freiheit“ so: „Die Natur macht aus dem Menschen ein Naturwesen. Die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes. Ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen (vgl. Mut: Ich-Organisation und Ich-Wesen als Quelle von Mut).“ 1

Christian Morgenstern hat das in einem seiner Gedichte treffend charakterisiert:

Die zur Wahrheit wandern,
wandern allein,
keiner kann dem andern
Wegbruder sein.

Eine Spanne geh‘n wir,
scheint es, im Chor
... bis zuletzt sich, sehn wir,
jeder verlor.

Selbst der Liebste ringet
irgendwo fern;
doch wer's ganz vollbringet,
siegt sich zum Stern,

schafft, sein selbst Durchchrister,
Neugottesgrund –
und ihn grüßt Geschwister
Ewiger Bund. 2

Wäre dies nicht so, würden uns Menschen die wichtigsten Grundpfeiler unserer Existenz, Selbstständigkeit und Freiheitsbewusstsein, fehlen.

So wie das Wort „ich“ von jedem einzelnen Menschen nur auf sich selbst angewendet werden kann und dennoch auch ganz objektiv für jeden anderen Menschen gilt, so bleiben die objektiven Schulungswege und Hilfen zur Geisterkenntnis, die schon seit Urzeiten zu den Kulturgütern jeder Religion und jeder nach Wahrheit suchenden Philosophie gehören, unzureichend für den einzelnen, wenn er nicht selbst über diese Themen nachdenkt und durch eigene Erfahrung zu dem gesuchten Ziele gelangt.

Das sogenannte sichere Wissen stützt sich ausschließlich auf die Sinneserfahrung und das diese verarbeitende Denken; der Glaube hingegen ist auf die Welt des Seelisch-Geistigen gerichtet, das den Sinnen verborgen und materiell nicht vorzeigbar ist. Dazwischen tut sich zu Recht ein tiefer Abgrund auf. Die Unfähigkeit, ihn zu überbrücken, erweist sich als das größte Hindernis für die Erlangung seelischer Gesundheit und Stärke (vgl. Gesundheit: Emotionale Gesundheit), aber auch für die menschliche Entwicklung als solche.

Denn welchen Sinn sollte alle Anstrengung und Mühe haben – gerade auch unter schwierigen Lebensbedingungen –, wenn die Entwicklungsperspektive mit dem Tode endet und danach die große Ungewissheit kommt?

Doch bringt uns bereits das Nachdenken über diese Frage, warum es so schwer ist, die Brücke zwischen dem materiellen und dem geistigen Dasein zu finden, dem Sinn der menschlichen Existenz – und damit der eigenen Identität– ein entscheidendes Stück näher – auch wenn wir noch nicht den Mut und den Willen aufbringen, das Geistige in uns ernst zu nehmen.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 2. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004**

  1. Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, GA 4, 9. Kapitel.
  2. Christian Morgenstern aus Wir fanden einen Pfad. Werke und Briefe. Stuttgarter Ausgabe Band II, Stuttgart 1992,
    S. 207.