Einleitendes zum Thema Gemeinschaft

Wo Menschen zusammenleben und -arbeiten, entstehen Familiengemeinschaften, Volksgemeinschaften, Berufsgemeinschaften, regionale Gemeinschaften, Arbeitsgemeinschaften, religiöse und kultische Gemeinschaften.

Die Befähigung zur Gemeinschaftsbildung war in vorchristlichen Zeiten noch stark von Herkunft und Familie, d.h. von Blutsbanden geprägt. Gegenwärtig sind es zunehmend Bilder und Urkunden, religiöse Werte, Ziele und Visionen, die Menschen begeistern, kulturell zusammenhalten und für gemeinsames Tun inspirieren.

Jeder Mensch, der sich in die Inkarnation begibt, ist ein „Licht, das in die Finsternis scheint“ 1 und kann im Laufe der Entwicklung begreifen lernen, dass er oder sie ein Kind des Lichtes ist und dass man lernen kann, diese Tatsache als Botschaft in individualisierter Form durchs Leben zu tragen. Alle Lichtträger, alle „Christophore“, sind für diese Aufgabe prädestiniert, ganz unabhängig davon, wo sie sich befinden – selbst wenn man im Gefängnis ist. Aus dieser Kraft heraus können Erkenntnisgemeinschaften, Arbeitsgemeinschaften, kultische Gemeinschaften gebildet werden.

In diesen Kontext passt aber auch, was Rudolf Steiner den „umgekehrten Kultus“ 2 nennt, die Gemeinschaftsbildung, die durch gemeinsame geistige Arbeit entsteht. Hier steht die „lebendige Kraft, die wir hineinlegen in die Gestaltung der Ideen vom Geistigen“ im Mittelpunkt. Wird z.B. ein Patient, ein Krankheitsbild, eine Arzneisubstanz so betrachtet, dass alle Beteiligten bestrebt sind, das sinnlich Gegebene als Ausdruck übersinnlich-geistigen Kräftewirkens zu empfinden, zu erleben, dann wird das Sinnliche ins Übersinnliche hinauf gehoben und die Substanz des umgekehrten Kultus entsteht. Im Kultus offenbart sich Geistiges im Sinnlichen. Im umgekehrten Kultus wird das Sinnliche ins Geistige erhoben und kann seine Geistnatur offenbaren. Doch erst im Empfinden, dass dies so ist, bildet sich die spirituell stärkende Substanz – nicht im Nachdenken. Gemeinschaft wird erst real, wenn sie empfunden und ihre stärkende Kraft erlebt wird.

Wie aber kann z.B. eine Arbeitsgemeinschaft der Ärzte, Pflegenden und Therapeuten entstehen und bewusst Pflege finden, die sich dem Ideal des „umgekehrten Kultus“ verpflichtet fühlt?

Das kann nur gelingen, wenn der Einzelne im Ringen um einen Patienten, ein Arzneimittel, oder um das Verständnis eines Krankheitsbildes nicht nur sein Bestes gibt, sondern auch durch die gemeinsame Hinwendung zum Geistigen Kraft empfängt.

Erkennen wir uns als Angehörige einer spirituell strebenden Ärzte- und Therapeutengemeinschaft?

Erkennen wir uns in der anthroposophisch-medizinischen Bewegung als Angehörige einer weltweiten Arbeitsgemeinschaft, die das Ziel hat heilend zu wirken, nicht nur im Individuellen, sondern auch im sozialen Umfeld bis hinein in den großen menschheitlichen Zusammenhang?

Welche Schulungsmittel bietet die Anthroposophie zur Entwicklung sozialer Fähigkeiten, durch die Gemeinschaften durchlässig, empfänglich werden für therapeutische Inspirationen?

Therapeutische Gemeinschaftsbildung

Die Frage, aus welchen Kräften, Inspirationen und Willensimpulsen der Menschen die Möglichkeit zur Gemeinschaftsbildung hervorgeht, ist so alt wie die Menschheit selbst. Denn wo immer Menschen lebten, gab es Familiengemeinschaften, Berufsgemeinschaften, regionale Gemeinschaften, Arbeitsgemeinschaften, religiöse kultische Gemeinschaften. Es war die Ausnahme und trat als Phänomen erst relativ spät auf, dass jemand Einsiedler wurde. Doch auch ein Einsiedler braucht hin und wieder den Anschluss an den Kontext und sucht oft gerade die Gemeinschaft im Geiste. Es handelt sich also um eine sehr allgemein-menschliche Frage, die wie die Frage nach der Selbsterkenntnis in jeder Zeit, in jedem Jahrhundert, in jedem Jahrtausend immer wieder neu gestellt werden muss.

Im Volksseelenzyklus formuliert es Rudolf Steiner auch für die Volksgemeinschaften so: „Erkennet euch selbst als Volksseelen“ 3, als Angehörige eines Volkstums.

Vgl. Publikation im ‚Der Merkurstab’ des Vortrags auf der Jahreskonferenz der anthroposohisch-medizinischen Bewegung am 16.9.11 im Goetheanum**

  1. Joh. 1,5.
  2. Siehe: Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule von 1904-1909. GA 265, S. 33, 34: „Wenn dieses Bewußtsein vorhanden ist und solche Gruppen in der Anthroposophischen Gesellschaft auftreten, dann ist in diesem, wenn ich so sagen darf, umgekehrten Kultus, in dem anderen Pol des Kultus, etwas Gemeinschaftsbildendes im eminentesten Sinne vorhanden“ und daraus könne diese „spezifisch anthroposophische Gemeinschaftsbildung“ erwachsen. (Dornach, 3. März 1923).
  3. Rudolf Steiner, Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie. GA 121, Rudolf Steiner Verlag.