Das Kohärenzgefühl als Grundlage seelischer Gesundheit

Im Zentrum des Salutogenese-Konzeptes von Antonovsky steht der Begriff „Sense of Coherence“ (SOC), zu Deutsch: Kohärenzgefühl. Hier geht es darum, zu verstehen, wie der Mensch Extrembelastungen negativer Art innerlich und damit auch weitgehend äußerlich standhalten kann. Antonovsky fand heraus, dass gesunde Menschen ein starkes Kohärenzgefühl haben, dass sie sich mit sich selbst, ihrem Schicksal, mit anderen Menschen sowie mit den Zeitverhältnissen, unter denen sie leben, verbunden fühlen. Kohärenz zu erleben bedeutet Zusammenhänge zu erleben (vgl. Erziehung: Sinn für Kohärenz durch salutogenetische Pädagogik). Je stärker das Kohärenzgefühl eines Menschen ist, desto deutlicher werden der Sinnbezug und damit auch das Sinnerleben in Bezug auf die eigene Existenz. Ohne Bezug zu sich selbst und zu den Dingen und Wesen um sich her wirft letztlich auch die eigene Existenz quälende Sinnfragen auf.

Der Gesundheits- und Krankheitszustand eines Menschen wird maßgeblich bestimmt von seiner allgemeinen Grundhaltung gegenüber der Welt. Deshalb sind bei äußerlich vergleichbaren Bedingungen, wie z.B. in Kriegs- oder Notzeiten, ganz unterschiedliche Arten der Bewältigung bei den Betroffenen zu beobachten.

Das Kohärenzgefühl ist laut Antonovsky „eine globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein durchdringendes, überdauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass erstens die Anforderungen aus der inneren und äußeren Erfahrungswelt im Verlauf des Lebens strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind und dass zweitens die Ressourcen zur Verfügung stehen, die nötig sind, um den Anforderungen gerecht zu werden. Und drittens, dass diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Investitionen und Engagement verdienen.“1

Entwicklung von Kohärenzgefühl

Wie gelingt es nun Kohärenzgefühl zu entwickeln und damit nachhaltig Gesundheit zu veranlagen?

Kohärenzgefühl und Weltanschauung hängen unmittelbar zusammen. Optimal wäre es, wenn ein Kind durch Erziehung und Lebensweise eine befriedigende Weltanschauung erwirbt. Wenn es erfahren darf, dass die Welt schön, gut und wahr ist und somit auch verstehbar, sinnhaft-bedeutsam und handhabbar. Was das bedeutet, möchte ich im Folgenden näher erläutern.

1. Die Welt verstehen

Wer die Welt – und sei es nur den eigenen kleinen Ausschnitt davon – verstehen kann, erlebt sie als geordnet und strukturiert und nicht als chaotisch, willkürlich, zufällig oder unerklärlich. Das ist eine entscheidende Voraussetzung, um sich gesund zu fühlen. Personen, die über ein hohes Maß an Verständnis für Vorgänge, Zusammenhänge und Menschen um sich herum verfügen, sind in der Lage, beim Auftreten von Schwierigkeiten, selbst wenn es sich um Tod, Krieg und Versagen handelt, sich in ein bewusstes Verhältnis dazu zu setzen und so ein echtes Verständnis dafür zu entwickeln. Die Ereignisse sind für sie aufgrund ihrer interessierten, offenen Haltung der Welt gegenüber verstehbar.

2. Sinnstiftender Umgang mit Problemen

Das Gefühl von Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit entsteht, wenn man sein Leben als sinnvoll erleben kann. Folgende Fragen können uns helfen herauszufinden, wie es um unseren Sinnbezug eigenen Leben bestellt ist:

Sehe ich auftretende Schwierigkeiten und Hemmnisse als willkommene Herausforderungen, an denen ich wachsen kann oder sind sie mir eher eine Last, die ich gerne los wäre?

Sind meine Überzeugungen mir wertvoll genug, dass ich mich für sie einsetze und mich dafür engagiere?

Geschieht etwas Tragisches, z.B. ein Unfall, der Tod eines nahestehenden Menschen, die Notwendigkeit, sich einer schweren Operation zu unterziehen, oder der Verlust des Arbeitsplatzes, so kann ich mich neben der Angst, Trauer oder Wut, die ich empfinde, auch fragen:

Was bedeutet dieses Ereignis für mich, für meine Entwicklung?

Wie kann ich meinem Leben gerade dadurch vielleicht einen neuen Sinn geben?

Auf diese Weise können unglückliche Erfahrungen als persönliche Herausforderung empfunden werden, die sich in das eigene Schicksal integrieren lassen. Wer so lebt, steht nicht im Widerstreit mit sich selbst, indem er gewisse Erlebnisse und Anteile von sich selbst von der eigenen Persönlichkeit als nicht akzeptabel abspaltet.

Zudem kann hier das tiefchristliche Stellvertretermotiv zum Tragen kommen. Steiner formulierte es sinngemäß so: „Was du auch leidest, leidest du um eines großen Weltzusammenhanges willen.“2 Erst im Gesamtzusammenhang zeigen die Ereignisse, und seien sie auch noch so düster, ihren Sinn.

3. Schwierigkeiten handhaben lernen

Das Gefühl der Handhabbarkeit basiert auf einem klaren Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten und Begrenzungen. Grundsätzlich hat man das Gefühl: „Ich könnte, wenn ich wollte.“ Man erlebt die Welt und sich selbst als handhabbar. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass Schwierigkeiten zu lösen sind. Man weiß, dass man über geeignete Ressourcen verfügt oder dass man sie aufbauen kann, um allen Anforderungen zu begegnen.3 Dabei kann man auf eigene bzw. Erfahrungen anderer zurückgreifen, sei es nun vom Ehepartner, von Freunden, Kollegen, vom Arzt – kurz, von jemandem, auf den man zählen kann, dem man vertraut.

Das Kohärenzgefühl als Erlebnis von Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Handhabbarkeit der Welt entwickelt sich weitgehend in Kindheit und Jugend, weshalb diese Zeit eine entscheidende Bedeutung für die Gesundheit im späteren Leben hat.

Kohärenz erleben trotz Krieg, Angst und Not

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es viele Kinder, die aufgrund von eigenen Kriegserlebnissen oder Berichten von betroffenen Erwachsenen, wie denen von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki in Japan, mit starken Ängsten belastet waren. Angesichts solcher Ängste ist es entscheidend, wenigstens einen Menschen in der Nähe zu haben, der Verständnis für die Situation der Kinder hat, dem sie Fragen stellen können. Bezugspersonen dieser Art können mithelfen, dass ein Kind trotz allem Kohärenzgefühl erwirbt, indem es das Schreckliche irgendwie einzuordnen und in einem größeren Zusammenhang zu verstehen lernt.

Entsprechend ging es vielen Kindern und Jugendlichen im Nachklang der Ereignisse vom 11. September oder wenn sie von Völkermord und Hungersnot hörten oder von dem Dahinsiechen der unzähligen HIV-Infizierten in Afrika (Anm. der Betreiberin d. Webseite: Dazu gehört auch die Aufarbeitung der oft menschenverachtenden und nicht nachvollziehbaren Maßnahmen und Verhaltensweisen rund um die Coronakrise).

Gespräche und möglichst vielseitige Informationen, die das Ereignis verstehbar und verarbeitbar machen, sind das eine, was zu einer sinnstiftenden Verarbeitung nötig ist. Je nach Alter des Kindes ist aber vor allem entscheidend, dass es Menschen in seinem Umfeld gibt, am besten Mutter oder Vater, die all dies auch miterlebt und im Bewusstsein haben und dennoch Hoffnung und Lebenszuversicht ausstrahlen. Ein positiv gestimmter Erwachsener vermittelt dem Kind durch die Art, wie er ist, dass man lernen kann, auch damit zu leben, und welche Möglichkeiten jeder Mensch in allen Umständen hat, an einer positiven Änderung der Verhältnisse zu arbeiten (vgl. Trauma – Ursachen und Behandlung: Hilfe in einer traumatisierenden Zeit). Entscheidend ist, dass das Kind das Gefühl hat: Auch ich werde gebraucht, ich kann mithelfen, das Leben lebenswerter zu machen, das Engagement dafür lohnt sich.

Werden im Laufe von Kindheit und Jugend sinnstiftende Umgangsweisen und Bewältigungsstrategien erworben, wie man mit einem Konflikt, mit einem Problem fertig wird, dann ist man in der Lage, auch spätere problematische biographische Ereignisse entsprechend zu verarbeiten (vgl. Trauma – Ursachen und Behandlung: Sinnfindung als Weg der Heilung). Man entwickelt ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem Weltganzen, empfindet ein sinnvolles Verbunden-Sein mit der Umwelt, mit anderen Menschen, aber auch mit sich selbst.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

  1. Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1987.
  2. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?, GA 10, 24. Aufl. Dornach 1992.
  3. Schüffel et. Al. (Hrsg.), Handbuch der Salutogenese. Konzept und Praxis, Wiesbaden 1998.