Das Herz als Lebens- und Liebesquelle

„Die Sätze, über die wir meditieren, sind nicht Verstandessätze, die wir bloß begreifen sollen; ich kann nur immer wieder und wieder sagen: es sind Sätze, die leben, und mit denen wir selbst leben sollen, wie wir mit Kindern leben. Auch die Kinder kennen wir ja genau, und dennoch beschäftigen wir uns jeden Tag aufs neue mit ihnen. So soll es mit unseren Meditationssätzen sein ... Denn nur dadurch wird die Meditation fruchtbar, daß man die zu meditierenden Gedanken auf sich in voller Ruhe einströmen läßt.“1

Nicht bloß Verstandessätze

Sprüche mit mantrischem Charakter gehören zum Fundament des Lebens und des Arbeitens in der anthroposophischen Bewegung und in den durch sie inspirierten Tätigkeitsfeldern und Lebensbereichen. Im Folgenden haben wir aus der Fülle an Hinweisen und Meditationen zum Herzen und zur Herzfunktion einiges zusammengestellt, durch das zugleich auch die Stellung des Herzens deutlich wird als zentraler Ort der Meditation (vgl. Meditation auf anthroposophischer Grundlage: Allgemeines über meditatives Üben).

Im „Anthroposophischen Seelenkalender“2 wird das Herz siebenmal angesprochen – allein das ist ein mantrischer Lehrgang zur Weckung und Entwicklung der Herzfunktion im Menschen, beginnend mitten in der Adventszeit, seinen zentralen Einschlag in der Weihnachtsstimmung empfangend und sich in der 1. bis 4. Januar-Woche fortsetzend, um in der Vorosterzeit, 2. bis 8. März, abzuschließen mit der vollbewussten Geburt der Liebefähigkeit im „Menschenherzen“, aus der Macht des Weltendenkens heraus:

„Im Lichte, das aus Weltenhöhen
Der Seele machtvoll fließen will
Erscheine, lösend Seelenrätsel,
Des Weltendenkens Sicherheit
Versammelnd seiner Strahlen Macht
Im Menschenherzen Liebe weckend.“3

Diese Erwärmung des Herzens ist eine evolutionäre Aufgabe für die jetzige Zeit und die Zukunft.

Wenn wir uns dann die „Gebete und Sprüche für Mütter und Kinder“4 anschauen, die auch in GA 40 zu finden sind, erleben wir einen erstaunlichen Reichtum an Sprüchen, in denen das Herz der Mittelpunkt ist. Von 34 Gebeten und Sprüchen, haben 19 „Herz“!

Was vom Goetheanum gewollt wird

Das Herz als Lebens- und Liebesquelle spielt aber nicht nur in den Meditationen und Sprüchen, sondern auch in den von Rudolf Steiner gestifteten sozialen Formen der Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft eine zentrale Rolle (vgl. Freie Hochschule für Geisteswissenschaft: Aufbau der Sektionen). Die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft wurden angeregt, sich in ihren Herzen mit der Grundsteinmeditation zu verbinden, ja, diese Meditation „in den Boden ihrer Herzen zu versenken“. Rudolf Steiner knüpft hierbei im Rückblick an die Ur-Weihnacht der Zeitenwende an, um alles anthroposophisch-soziale Bemühen in das Licht und die Nachfolge Christi zu stellen:

„Göttliches Licht,
Christus-Sonne,
Erwärme
Unsere Herzen;
Erleuchte
Unsere Häupter; ...“ 5

Von der Hochschule spricht Rudolf Steiner als dem „Herzen der theosophischen (anthroposophischen) Bewegung“6 (vgl. Freie Hochschule für Geisteswissenschaft: Aufbau der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft). Er betont, dass man hier vereint sein möge in einem Geiste, zu dem Verstand und Intellekt keinen Zugang haben, sondern primär das Herz, „das begreifende und von Weisheit erfüllte Herz, das zugleich auch das liebende Herz ist“7.

Eine solcherart begründete Kultur des Herzens ist auch der Boden, auf dem die Medizinische Sektion der Freien Hochschule gebaut ist (vgl. Anthroposophische Medizin: Entwicklung und derzeitiger Stand). Die jungen Mediziner entlässt er am Ende der beiden Jungmedizinerkurse mit den Worten:

„Ich hoffe, daß das wieder beigetragen hat dazu, die Bande zwischen Ihren Seelen und dem Goetheanum noch enger, stärker zu machen, und daß Sie fühlen werden, daß schließlich gerade auf einem solchen konkreten Gebiete wie dem der Medizin, das Goetheanum Menschen findet, die in die Welt hinaustragen dasjenige, was hier gefunden werden kann. Sie werden zu einem richtigen Bewußtsein davon kommen, wenn Sie sich auch in Ihrem Fühlen als zum Goetheanum gehörend betrachten, und die Gedanken öfter an dasjenige richten, was vom Goetheanum eigentlich heute für die Welt und Zivilisationsentwickelung gewollt wird. Und so werden die Herzensbande, die Sie schließen können mit dem Goetheanum, etwas sein, was Ihnen gerade als Mediziner in einer tiefen Weise zu der Aufgabe helfen können wird, die Sie sich eigentlich gesetzt haben.“8

…dass wir uns gefunden haben in unseren Herzen

In den Meditationen, die Rudolf Steiner gegeben hat (vgl. Meditation auf anthroposophischer Grundlage: Allgemeines über meditatives Üben), steht das Herz als besonderes Organ, als das „edelste Organ“9, als der Einheitsgrund des ganzen Menschen vor uns. Es leuchtet auf als kraftspendendes, Mut spendendes Organ, das seine Kräfte aus dem geistig-seelischen Urquell zur Stärkung und Heilung in den physischen Leib senden kann. Überleiten zu den Meditationen möchten wir mit den Worten, die Rudolf Steiner an die Jugend richtet, am Ende des Jugendkurses. Auffallend ist, dass Rudolf Steiner in den letzten 29 Zeilen das Herz allein zehnmal erwähnt. Hier nur das Ende:

„.... aus diesem Gefühl, aus dieser Empfindung heraus möchte ich heute Ihren Herzen den Abschiedsgruß sagen, indem ich Ihnen zurufe: Nehmen Sie das, was ich in Worte auszusprechen versuchte, so hin, als ob ich vor allem etwas in Ihre Herzen hätte dringen lassen wollen, was in Worten nicht ausgesprochen werden kann. Wenn sich die Herzen nur ein bisschen zusammengefunden haben mit dem, was hier als lebendiger Geist gemeint ist, dann ist, wenigstens zu einem Teile, erfüllt, was wir erreichen wollten, als wir hier zusammenkamen ... Die Hauptsache wird sein, dass wir uns gefunden haben in unseren Herzen. Dann wird auch einfließen das Geistige, das Michaelhafte, in unsere Herzen.“10

Vgl. Geleitwort zu „Meditationen zur Herztätigkeit“, unveränderter Nachdruck der 2. Auflage, 2014

  1. Rudolf Steiner, An Clara Smits in Düsseldorf. Berlin, 28. Dezember 1903; An Doris und Franz Paulus in Stuttgart. Zürich, 14. April 1904. In: Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904-1914. GA 264, Dornach 1996, S. 51 und 53.
  2. Vgl. Rudolf Steiner, Anthroposophischer Seelenkalender. Das Herz wird hier in der 37., 38., 40., 41., 42., 43. und 48. Woche angesprochen. In: Wahrspruchworte. GA 40, Dornach 1998, S. 41, 42-44, 46.
  3. Ebenda, S. 46.
  4. Rudolf Steiner, Gebete und Sprüche für Mütter und Kinder. In: Wahrspruchworte, GA 40, Dornach 1991, S. 315-345.
  5. Rudolf Steiner, Grundsteinlegung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft am 25. Dezember 1923, 10 Uhr vormittags. In: Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924, GA 260, Dornach 1994, S. 66.
  6. Rudolf Steiner, An Frau Anna Wagner in Lugano, Berlin, 2. Januar 1905. In: Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904-1914, GA 264, Dornach 1996, S. 90.
  7. Rudolf Steiner, Die Mission der theosophischen Bewegung. Vortrag zur Einweihung des Zweiges, Bielefeld, 3. November 1908, GA 264, a.a.O., S. 402.
  8. Rudolf Steiner, Osterkurs. Fünfter Vortrag, Dornach, 25. April 1924. In: Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst, GA 316. Dornach 2008, S. 223.
  9. Rudolf Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Band 5, GA 239, Dornach 1985, S. 31.
  10. Rudolf Steiner, Dreizehnter Vortrag, Stuttgart, 15. Oktober 1922. In: Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogischer Jugendkurs, GA 217, Dornach 1988, S. 197.