Ich denke an mein Herz

Inwiefern ist das Herz die Schwelle zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt?

Welche Verbindung hat es zum ewigen Selbst?

Worin zeigt sich die Herzenstragekraft?

Die Besinnung auf das körperliche, seelische und geistige Herzerleben kann deutlich machen, dass im Herzen die geheimnisvolle Schwelle zwischen der physisch-sinnlichen und der übersinnlichen Welt zu finden ist. Das zeigt insbesondere die im Folgenden vorgestellte Herzmeditation1. Auch wenn man sich noch wenig oder gar nicht mit dem Thema Meditation beschäftigt hat, spürt man ihre orientierende Kraft und Wirksamkeit unmittelbar. Sie stammt aus einem der Notizbücher Rudolf Steiners:

Ich denke an mein Herz
Es belebet mich
Es erwärmet mich
Ich vertraue fest
Auf das ewige Selbst
Das in mir wirket
Das mich trägt.

Wer beginnt, mit dieser Wortmeditation zu arbeiten (vgl. Meditation auf anthroposophischer Grundlage: Allgemeines über meditatives Üben), merkt schnell, dass das Wort „Ich“ nicht zufälligerweise am Anfang steht. Doch nicht nur das – es wird auch unmittelbar an die Tätigkeit des Denkens appelliert. Wer an sein eigenes Herz denkt und sich klar macht, wie dieses treue Organ von der vierten Woche der Embryonalentwicklung an schlägt und uns dann durch unseren gesamten körperlich-seelisch-geistigen Werde-Prozess hindurch begleitet – durch Embryonalentwicklung, Geburt, Kindheit, Jugend, Alter bis hin zum Sterbe-Moment –, kann nicht anders, als eine gewisse Rührung zu empfinden über dieses rastlose Tätig-Sein, mit dem unser Herz uns in jeder Lebenslage beisteht: Es schlägt an den Höhepunkten unseres Lebens ebenso treu, wie in Zeiten der Verzweiflung an unseren Lebens-Tiefpunkten.

In den nächsten zwei Zeilen der Meditation werden wir an die zentrale Aufgabe der Herztätigkeit erinnert: die belebende Kreislauftätigkeit aufrechtzuerhalten, um insbesondere über die Durchblutung aller Organe bis hin zu Peripherie, zu den Fingern und Fußspitzen, für die notwendige Durchwärmung des Körpers zu sorgen.

Quelle allen Vertrauens

Die erste der vier Zeilen, die dann folgen, beginnt wieder mit dem Wort „Ich“ – doch jetzt wird das Ich auf die Quelle allen Vertrauens verwiesen: das Vertrauen in ein ewiges Selbst (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit). Das griechische Wort „Pistis“, das im Evangelium des Neuen Testaments mit „Glaube“ übersetzt wird, heißt beides: Glaube und Vertrauen. Während uns das Wort Glaube mehr an die menschliche Willenskraft erinnert (vgl. Religion: Religion und Wille), da ein gläubiger Mensch sich in einem bestimmten Augenblick seines Lebens zum Glauben entschieden hat, verweist das Wort Vertrauen mehr auf Gefühl und Denken. Denn wer nicht vertraut, hat Zweifel an der Glaubwürdigkeit des anderen oder hat ein unsicheres oder gar gemischtes Gefühl, das ihn abhält Vertrauen zu fassen. In der Formulierung „Ich vertraue fest“ kommen diese beiden Qualitäten des Glaubens und Vertrauens zusammen. Die Festigkeit des vom Willen gestützten Glaubens verbindet sich mit dem zukunftsoffenen Gefühl der Hoffnung und der Bereitschaft zu vertrauen.

Ob und in welcher Form es ein ewiges Selbst gibt, das mit unserem vergänglichen, körperlichen Selbst in Verbindung steht, gehört zu den zentralen Fragen menschlicher Selbsterkenntnis. Dieser Frage sind die beiden letzten Zeilen dieser Herzmeditation gewidmet. Was in mir wirkt und mich durch das Leben trägt, ist der Rhythmus des eigenen Herzens.

Herzenstragekraft

Diese Meditation kann aber auch der Besinnung auf den Ort der Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedanken-, Gefühls- und Willenskräfte dienen. Der Tragekraft der Mitte, der Tatsache, dass wir geistig-seelisch aus der Herzmitte geboren und getragen sind, kann man sich anhand von folgenden Überlegungen bewusst machen: Wir sind die Inkarnation dieser Geisteskräfte, auch Wesensglieder genannt. Sie bilden in einem ersten Schritt den Leib und tragen uns, leibfrei geworden, durch die Pforte des Herzens in die Welt unseres eigenen Denkens, Fühlens und Wollens (vgl. Wesensglieder: Die Metamorphose der Wesensglieder in leibfreies Denken, Fühlen Und Wollen).

Im Tode wird schließlich der ganze Leib zum Herzen, alle Kräfte verlassen ihn und der Leib zerfällt. Die seelisch-geistigen Kräfte unseres ewigen Selbst machen im nachtodlichen Leben weitere Metamorphosen durch, um die Leibbildung für das nächste Erdenleben vorzubereiten (vgl. Nachtodliches und vorgeburtliches Leben: Zwischen Tod und neuer Geburt ). Dabei ist die Herzenstragekraft führend. Und genau diese Tragekraft des Herzens ist auch das Fundament von Pädagogik und Medizin.

Vgl. Herzmeditation, in: Meditation in der Anthroposophischen Medizin, 1. Kap., Berlin 2016 sowie „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015

  1. Rudolf Steiner, Mantrische Sprüche. Seelenübungen II, GA 268. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1999a, S. 181.