Die Ur-Ideale – Wahrheit, Liebe und Freiheit

Welches sind die grundlegenden Ideale des Menschen?

Im Neuen Testament wird immer wieder von der Verwirklichung von Menschlichkeit auf dreierlei Weise gesprochen:

  • im Denken durch Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit,
  • im Fühlen durch Mitleidsfähigkeit und Liebe,
  • im Wollen durch Freiheit für mich selbst, aber auch für meine Mitmenschen.

Wer sich mit diesen Idealen bewusst zu identifizieren versucht, beginnt einen konsequenten Weg der Verwirklichung seiner Menschlichkeit. Alles, was ihm begegnet, wird dann zum Anlass, an diesen drei Fähigkeiten zu arbeiten. Denn es gibt keine Schwierigkeit, kein Problem, keine Aufgabenstellung, an die man nicht mit der Frage herangehen kann:

Welche Wahrheit steckt darin?

Was kann ich hier lernen?

Wie arbeite ich an dem Problem so, dass ich dadurch verständnisvoller, mitleidsvoller, liebevoller werde?

Wie arbeite ich so daran, dass meine eigene Freiheit und die der anderen dadurch vergrößert wird?

Licht und Schatten

Geht man mit Fragen dieser Art an Probleme und Konflikte heran, kann sich das dreifache Ideal als unsichtbarer Freund und Begleiter, als Licht auf dem täglichen Weg, erweisen. Wer damit lebt, wird aber auch sensibel für alles, was einer solchen Arbeit an der eigenen Menschlichkeit entgegensteht: Die „Finsternis“ auf diesem Weg ist auch gegenwärtig.

  • Wir können auf der einen Seite erleben, wie dieses Ideal uns immer wieder Mut macht und sein Licht auf unseren Wegen nie erlischt. Mit ihm können wir uns dauerhaft identifizieren und uns dadurch in unserem unzerstörbaren Wesen erleben und erkennen. Wenn wir mit dem Ideal des Werdens „eins“ geworden sind, leuchtet ganz real etwas von unserem ewigen Wesen in die Zeitlichkeit unseres Werdens hinein.
  • Auf der anderen Seite gibt es auch finstere Momente, in denen wir zugeben müssen, dass wir oft nicht wirklich wollen, dass wir Zweifel haben und sogar Hass und Wut auf das Ideal – und auch Angst davor (vgl. Krise als Chance: Sieben Schritte aus der Krise).

Jeder Mensch, der ehrlich mit sich ist, spürt neben dem stillen Licht auch die aktive Finsternis in sich, die zu diesem Ideal „nein“ sagen möchte.

Um die Spannung zwischen dem inneren Ja und dem inneren Nein auszuhalten zu können, brauchen wir die Kraft der Einsicht, dass auch unsere seelische Finsternis, die sich als Zweifel, Hass und Angst kundtut, Sinn und Bedeutung hat für unsere Entwicklung. Wäre das Nein nicht auch als Möglichkeiten in uns veranlagt, könnten wir nicht aus eigenem Entschluss und in Freiheit (vgl. Geist und geistiges Wesen: Geisterkenntnis und Freiheit) zu unserem Lebensideal hin finden. Dann könnten wir nur das verwirklichen, was durch den Schöpfungsprozess selbst in unsere Natur gelegt worden ist. Es wäre nicht möglich, das wir uns als freies Wesen selbst verwirklichen.

Drei Seiten des Ideals wahrer Menschlichkeit

Eine Selbstbesinnung dieser Art kann zu der Entdeckung führen, dass die Spannung zwischen dem Ideal und den inneren Widerständen, die ihm entgegenstehen, gerade die Voraussetzung dafür ist, das zu entwickeln, worauf wir mit Recht stolz sind: Freiheit und Liebe.

Denn was wäre Liebe, wenn wir zu ihr nur von Natur aus veranlagt wären und sie nicht frei in unserer Seele bilden und aktiv dem anderen entgegenbringen könnten?

Liebe ohne Freiheit ist nicht vollkommen (vgl. Liebe: Das dreigliedrige Wesen der Liebe). Ebenso verhält es sich mit der Freiheit: Wird sie lieblos gehandhabt, ist auch sie nicht wirklich menschenwürdig. Diese beiden Qualitäten gehören untrennbar zusammen. Die genauere Betrachtung zeigt, dass auch das dritte Ideal, die Wahrheit, ebenfalls unlösbar mit den beiden anderen verbunden ist.

Denn was ist Liebe ohne bedingungslose Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit?

Und was bewirkt Freiheit, wenn sie der Lüge dient?

Diese drei sind verschiedene Seiten ein und desselben Ideals. Nur wenn sie in ihrer Zusammengehörigkeit erlebt werden, erscheinen sie als unmittelbarer Ausdruck tiefster Menschlichkeit (vgl. Erziehung: Tieferer Sinn der Krippenarbeit).

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997**