Konstruktiver Umgang mit Idealen

Wie können Ideale zu mehr Zufriedenheit verhelfen?

Wie kann man in diesem Sinne konstruktiv mit ihnen umgehen?

In Gesprächen mit Drogenabhängigen, insbesondere aber auch mit Alkoholikern, kann man erleben, dass gerade diese Menschen ausgesprochene Idealisten sind. Nur sind ihre Ideale so perfekt, so strahlend, dass ihnen gegenüber die Wirklichkeit kümmerlich wirkt und sie das nicht ertragen. Sie leiden an der Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen der Welt, in der sie leben, und der Welt, die sie sich wünschen (vgl. Mut: Mut und Demut). Der eigentliche Grund für ihre tiefe Lebensunzufriedenheit und den Zweifel am Sinn ihrer Existenz ist die Tatsache, dass diese Kluft nicht zu überbrücken ist. Ihr Drogen- und Alkoholkonsum soll ihnen darüber hinweghelfen. Die Frage ist jedoch, wie ihnen nachhaltig geholfen werden könnte.

Es gibt ein lesenswertes Buch von Wolfgang Schmidbauer.1 Der Autor beschreibt die enorme Destruktivität von Idealen, wenn jemand sich so mit ihnen identifiziert, dass er meint, erfüllen zu müssen, was er als Ideal vor sich sieht. Könnte man Ideale im Handumdrehen verwirklichen, wären es aber keine Ideale! Rudolf Steiner schließt sein durch und durch idealistisches Buch „Die Philosophie der Freiheit“ mit dem bemerkenswerten Satz ab: „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können, sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“2 Ideale dienen dem Werden und nicht dem zwanghaften Wunsch nach „Sein“, nach Können, nach der Verwirklichung im Hier und Jetzt. Das zu verstehen ist geradezu entscheidend, um das notwendige Maß an Zufriedenheit mit dem So-Sein aufbringen zu können. Solange ich nicht lerne, mit der Kluft zwischen meinem Ist-Zustand und meinen zukünftigen Möglichkeiten zurechtzukommen, kann ich keine Lebenszufriedenheit empfinden. Wenn es mir nicht gelingt, mich mit den Idealvorstellungen von Mensch und Welt so zu verbinden, dass ich in ihnen Impulse für die Entwicklung sehe, werden sie mich knechten und nicht nur unzufrieden, sondern auch unfrei machen. Gelingt es aber, sich mit der Tatsache zu identifizieren, dass man ein Werdender ist, dass man lernen darf, dass man Zeit hat und in Entwicklung begriffen ist –, kann Zufriedenheit und Humor die Seele friedlich und fröhlich stimmen. Jetzt kann man so viel an sich und den Lebensverhältnissen arbeiten, wie man wirklich möchte. Dabei ist es hilfreich, in den täglichen Belastungen und Herausforderungen die jeweils anstehende Aufgabe zu sehen. Es geht darum, im Üben und Umgehen-Lernen mit uns selbst in einen Werde-Prozess zu kommen. Man erlebt sich in einer großen evolutiven Perspektive und verspürt zunehmend Dankbarkeit darüber, dass das so ist, dass man im Werden begriffen ist und die eigene Entwicklung in die Hand nehmen kann.

Quelle der Zufriedenheit in uns selbst

Menschen ohne Ideale sind schwer vorstellbar. Zumindest im Verborgenen spürt jeder, dass er Ziele und Möglichkeiten in sich trägt, die er ersehnt, die er aber nicht recht formulieren kann oder an deren Verwirklichung er zweifelt, wo er resigniert hat. Durch Selbsterziehung und die Art, wie wir miteinander umgehen, können wir Menschen bei dieser Selbstfindung helfen und so an der Überwindung der allgegenwärtigen Unzufriedenheit mitarbeiten. Um Zufriedenheit zu erwerben, müssen wir lernen, das Ideal menschlichen Werdens in einen Weg umzuwandeln, in konkrete Schritte, die uns täglich das Gefühl geben, dem Ideal wieder etwas nähergekommen zu sein. Es gibt viele persönliche und sachliche Gründe, um mit diesem oder jenem im Außen unzufrieden zu sein, – deshalb müssen wir die Quelle der Zufriedenheit in uns selbst suchen. Dann wird es uns auch gelingen, den Aufgaben, die das Leben uns stellt, so zu begegnen, dass unsere Arbeit friedenstiftend und hilfreich wirkt. Ein menschliches Verhältnis zu seinem Lebensideal aufzubauen bedeutet, dass man es aushält, ihm noch nicht zu entsprechen, dass man sich aber dennoch genügend anstrengt, es zu erreichen.

Die Ideale, nach denen wir uns richten, können sehr unterschiedlich sein. Deshalb muss jeder seinen eigenen Weg suchen und das für ihn passende und erstrebenswerte Ideal für seine Entwicklung finden. Für viele Menschen sind Erfolg, Reichtum, privates Glück, Anerkennung von Kollegen und der Gesellschaft die erstrebenswertesten Ideale der Selbstverwirklichung. Man kann im Laufe des Lebens feststellen, dass Ideale und Lebensinhalte sich wandeln und eine Vertiefung finden. Auch können kleine Ideale soweit verwirklicht werden, dass sie zu leuchten aufhören: Ihre Substanz, ihr Potential, ist dann „ausgeschöpft“.3 Jeder Mensch, auch derjenige, der zunächst in äußeren, materiellen Gütern sein Lebensideal sieht, wie dies z.B. bei Tolstoi der Fall war, hat Sehnsucht nach mehr Menschlichkeit (vgl. Ideale: Die Ur-Ideale – Wahrheit, Liebe und Freiheit), nach Werten, die unvergänglich und nicht nur für das Leben auf der Erde sinnvoll sind.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997**

  1. W. Schmidbauer, Alles oder Nichts. Reinbeck 1980.
  2. Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, GA 4.
  3. Die Biographie Tolstois stellt ein bedeutendes, literatur- und geistesgeschichtlich folgenreiches Beispiel für einen solchen Wechsel von Idealen dar. Der metaphorische Bezug zu Licht und Finsternis kommt in diesem Zusammenhang besonders deutlich in dem Titel desjenigen Dramas von Tolstoi zum Ausdruck, in dem er autobiographisch diesen Umschwung dargestellt hat: Und das Licht scheint in die Finsternis.