Das Ich als Tragekraft über den Abgrund

Was hilft, wenn uns Hass zu übermannen droht?

Was hilft uns, aus Freiheit das Gute zu tun?

Wende am Abgrund

Ein unvergesslicher Moment in meiner Vater-Tochter-Begegnung war, als ich meinen Vater fragte, was für ihn die größte Herausforderung im Krieg war. Er war Journalist an vorderster Front und hatte so den gesamten 2. Weltkrieg als Kriegsberichterstatter mitgemacht. Er hat viel Furchtbares gesehen und gehört. Auf meine Frage hin erzählte er Folgendes: Auf dem Russland-Feldzug kamen sie abends in ein verlassenes Dorf, in dem vor ihnen schon deutsche Soldaten genächtigt hatten. Sie betraten in eine kleine Hütte, in der an der Holzwand ein Zettel hing mit einem Bild von Adolf Hitler. Als er dieses Bild sah, stieg abgrundtiefer Hass in ihm auf, weil dieser Mensch so viel Leid und Elend verursacht hatte. Er konnte fast nicht an sich halten vor Hass – doch im nächsten Moment überkam ihn tiefe Scham und er hörte in sich die Frage: Könntest du für diesen Menschen beten?

Solch ein Erlebnis bringt uns Menschen an den Abgrund der eigenen Existenz. In dem Nichts, das sich vor uns auftut, dürfen wir den freien Entschluss fassen, unsere Haltung zu ändern, eine Wende herbeizuführen. Denn das Wesen der Freiheit zeichnet sich dadurch aus, dass es aus Freiheit das Gute zu tun vermag – nicht, weil es gerecht ist, sondern weil wir Menschen freie Wesen sind und das Böse nur in der Welt ist, um uns diese Freiheit zu ermöglichen. Dazu muss das Gute „in Urlaub“ sein, d.h. frei vom Guten zu sein, gehört auch zu unserem Dasein dazu.

Vom Ich begleitet

Das Großartige ist, dass man nicht im Bodenlosen versinkt, wenn man den Ich-Begriff im Denken fassen konnte. Das ist vielleicht der Grund, weswegen die Esoterik so viel vom Abgrund redet. Wenn man genau aufpasst, kann man am Abgrund zweierlei erleben:

  1. Zum einen spürt man den Impuls zu kämpfen.

  2. Außerdem kann man erleben, dass das eigene Ich-Bewusstsein überallhin mitgeht, auch in den Hass. Dieses Ich-Bewusstsein ließ meinen Vater fragen: Könntest Du für ihn beten?

Es ist eine große Hilfe, wenn wir darauf aufmerksam werden, dass da immer jemand ist, der an unserer Seite geht; der durch die schlimmsten Abgründe mitgeht und die höchsten Höhen miterlebt, aber nie darin aufgeht, sondern darüber hinaus da ist und immer stärker ist als derjenige, der alles erlebt; einer, der zuschaut und merkt, dass da einer etwas erlebt. Diesen wahrnehmenden Begleiter, unser Ich, ins Bewusstsein zu bekommen, wirkt als Tragekraft über den Abgrund. In der Unverletzlichkeit der Ich-Sphäre sind Mut, Vertrauen sowie Gewissheit über die Ewigkeit des Geistes und die eigene Identität begründet (vgl. Identität und Ich: Identifikation und Schicksal).

Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013