Körperliche, seelische und geistige Immunisierung

Wie hängen Lebensalter und Immunisierung zusammen?

Körperliche Immunisierung

In der Zeit zwischen null und zwanzig, in der unser Körper sich entwickelt, bis er ausgewachsen ist, treten akute Infekte auf, je früher, desto öfter (vgl. Entwicklung: Stadien der menschlichen Entwicklung): Ein Erwachsener mit einer Mittelohrentzündung ist eine Seltenheit. Ein Kind mit einer Mittelohrentzündung ist etwas völlig Normales. In einem Winter vier bis fünf Male krank zu sein, ist für ein Vierjähriges normal – bei einem Erwachsenen ist das oft ein Hinweis auf schwere Erkrankungen. Im Erwachsenenalter sind Infekte oft hochproblematisch, ganz unabhängig davon, ob es sich um eine Kinderkrankheit oder nur um Husten, Schnupfen und Heiserkeit handelt. In der ersten Lebensspanne jedoch sind all diese Erkrankungen normal, weil die Immunisierung, der Aufbau des Immunsystems, zur körperlichen Entwicklung gehört. Das Immunsystem entwickelt sich nur in der Auseinandersetzung mit der Welt und mit Krankheitserregern – entweder still oder laut:

  • „Laut“ bedeutet, das Kind bekommt Fieber und ist richtig krank.
  • „Still“ bedeutet, es ist etwas angeschlagen, fühlt sich nach einer Weile aber wieder wohl – es hat den Infekt still durchgemacht. Das wird auch stille Feiung genannt.

Akute Infekte sind normal und erwünscht. Sie haben alle die Aufgabe das Immunsystem zu stimulieren. Der Sinn der akuten Infekte in Kindheit und Jugend ist ganz offenkundig: Sie dienen der körperlichen Immunisierung und veranlagen Gesundheit für das ganze Leben. Übrigens zeigen auch viele Praxisversuche, dass Kinderkrankheiten die Krebsanfälligkeit im späteren Leben verringern. Das ist leicht einzusehen. Es bleiben diesbezüglich noch viele interessante Forschungsfelder für die Wissenschaft.

Seelische Immunisierung

Die Haupterkrankungen im zweiten Lebensviertel, zwischen 20 und 40, sind keine akuten Infekte mehr. Menschen, die sich eine körperlich-immunologische „Grundausstattung“ erworben haben, egal ob zu 80% oder zu 100%, werden normalerweise zwischen 20 und 40 nicht mehr krank. Viele haben höchstens einen Schnupfen, den sie aber kaum bemerken.

Aber alle haben psychosomatische Probleme oder Schwierigkeiten am Arbeitsplatz bzw. im Privatleben und/oder vegetative Dystonien unterschiedlichster Art: Herzstiche, Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme, Schlafstörungen. Es gibt keinen Menschen, der in dieser Zeit keine seelischen Probleme hätte. Diese Probleme müssen ihn nicht unbedingt zum Arzt oder in Therapie bringen, dennoch wird er ziemlich damit ringen müssen. Sie dienen der seelischen Immunisierung, indem sie den Betreffenden „zwingen“, seelisch an sich zu arbeiten, eine höhere Stresstoleranz und mehr Verständnis zu entwickeln, sich besser wehren zu lernen, usw. Jeder muss sich in diesem Zeitraum eine dicke Haut erwerben, muss lernen selbst zu bestimmen, was er sich „unter die Haut gehen“ lässt und was daran abprallen soll. Was der Körper zu unterscheiden lernen musste, muss nun auch die Seele erlernen:

Was lasse ich an mich heran, was weise ich ab?

Wo ziehe ich im Seelischen die Grenze zwischen Innen und Außen?

In Schwaben haben wir ein schönes Wort: „Mit 40 wird der Schwabe erst gescheit...“.

Rudolf Steiner sagte, vor dem 42. Lebensjahr wäre man im Sozialen nicht voll kompetent, egal wie klug jemand wäre, und sollte nicht öffentlich als esoterischer Lehrer auftreten. Es würde noch etwas zur seelischen Reifung fehlen, die seelische Immunisierung wäre noch nicht abgeschlossen. Das sind biografisch-evolutionäre Gesetzmäßigkeiten. Die Seele, Empfindungs-, Verstandes- und Bewusstseinsseele, braucht Zeit sich zu entwickeln. Das Ich lernt durch diese Zustände hindurch, sich schrittweise in der eigenen Seele zu beheimaten und sich bewusstseinsmäßig der Welt gegenüber zu behaupten. Dadurch erlangt der Mensch seelische Stabilität.

Geistige Immunisierung

Für das letzte Lebensdrittel sind chronische Erkrankungen typisch: Diabetes Typ 2, Rheuma, das nicht allzu stark auftritt, Verschleißerscheinungen an den Bandscheiben, Gelenksarthrosen, Gallen- und Magen-Darm-Probleme, Herz-Kreislauf-Probleme. Die verschiedenen Systeme funktionieren nicht mehr so ganz – und sei es nur, dass man eine Brille braucht, weil die Augen nicht mehr so mitmachen. Die Beschwerden sind anfangs aber noch gut mit dem Leben vereinbar. Das Ausmaß dieser Störungen kann individuell sehr unterschiedlich sein, doch jeder wird damit konfrontiert, keiner bleibt verschont. Mit dem Auftreten einer chronischen Krankheit weiß man plötzlich, dass es nie mehr „gut“ wird, dass man nie mehr ganz gesund wird. Man fragt sich:

Was geschieht, wenn sich alles noch mehr verschlechtert, was kommt danach?

Der Sinn dieser Funktionsstörungen und Erkrankungen, die jeden mehr oder weniger betreffen, liegt offen zutage: Der Mensch muss sich mit der Vergänglichkeit seines Körpers auseinandersetzen (vgl. Sterben und Tod: Dem Tod entgegenreifen). Dadurch macht er sich mit dem Gedanken an den Tod, an die völlige Zerstörung des Körpers, vertraut. Chronische Krankheiten entsprechen den „Boten des Todes“ aus dem Märchen der Brüder Grimm, die jeder mehr oder weniger stark am eigenen Leib erlebt. Dabei geht es um geistige Immunisierung: Der Geist lernt in der Auseinandersetzung mit chronischen Krankheiten sich in seiner Unabhängigkeit von Leib und Seele, in seiner eigenen Identität, zu erfassen.

Vgl. Vortrag „Kinderkrankheiten angstfrei behandeln“, Filderstadt, Impfkongress 2009