Alarmierende Zahlen

Vor ein paar Jahren wurde in Köln an 1750 Jugendlichen eine umfangreiche Studie zu ihrem Gesundheitszustand sowie ihren persönlichen und psychischen Problemen gemacht. Die meisten der Elf- bis Achtzehnjährigen bekannten, dass sie unter Ängsten, Depressionen oder Zwängen litten. Ihre Eltern hatten lediglich Schulprobleme und Beziehungsprobleme oder trotziges und unkonzentriertes Verhalten bemerkt…

Schon ein Fünftel aller Kindergartenkinder zwischen drei und sechs Jahren zeigt Verhaltensauffälligkeiten wie Aggression, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen oder Ängstlichkeit. Und so geht es weiter – eine alarmierende Zahl folgt der anderen. Erneut müssen wir uns die beklemmende Frage stellen:

Wie lange schauen wir noch zu, ohne energisch auf allen kulturellen und politischen Ebenen für eine Änderung der schulischen Betreuung einzutreten und eine Weiterbildung für Eltern aus Steuergeldern zur Pflicht zu machen?

Auch hier ist das Geheimnis der kleinen Schritte anzuwenden, um dann – wenn das Problembewusstsein im Großen da ist – wirklich etwas bewegen zu können.

Was der Therapeut tun kann

Als Arzt oder Therapeut kann man nicht einfach in das häusliche Umfeld von Kindern oder in Schulen „einbrechen“ und „für Ordnung sorgen“. Man kann eigentlich nur an Stellen, an denen man Kindern in der Schule oder in der Therapie begegnet, fragen:

Was kann ich für die Entwicklung dieses Kindes tun?

Wie muss eine Kind-Therapeut-Beziehung aufgebaut werden, damit sie ein Kind resilient macht, damit die innere Widerstandskraft, die Glaubenskraft, die Liebe zum Menschsein, die Zuversicht, die Hoffnung auf Zukunft gestärkt wird?

Was kann ich tun unter dem Eindruck all der Schäden, all der Schwierigkeiten, der Jugendkriminalität, der Gewalttätigkeit, der Drogensucht – alles Probleme, die bereits bis ab dem neunten Lebensjahr auftreten?

Bereits Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stellte ich im Rückblick auf zehn Jahre schulärztliche Tätigkeit fest, dass Verhaltensauffälligkeiten, Skelett-Deforma-tionen, aber auch Schwächezustände und psychosomatische Beschwerden bei den Kindern, die ich jedes Jahr untersucht und beobachtet hatte, in diesen zehn Jahren um etwa ein Viertel zugenommen hatten. Und ich nehme an, dass sich diese Entwicklung in den letzten Jahrzehnten eher noch beschleunigt hat. Von daher verwundern mich die Ergebnisse der Kölner Studie auch nicht.

Schicksalslandschaft aktiv mitgestalten

Was aber kann geschehen, nicht nur für die eigenen Kinder, sondern allgemein zum Wohle der Kinder heute?

Auch hier ist das Geheimnis der kleinen Schritte anzuwenden, um dann – wenn das Problembewusstsein im Großen da ist – wirklich etwas bewegen zu können.

Wir müssen ihre Schicksalslandschaft aktiv mitgestalten, damit sie in uns gleichsam Anwälte, Lobbyisten, finden und wir mit größerer Sensibilität Beziehungen mit ihnen – wo auch immer sie sich ergeben – pflegen.

Man kann nicht wissen, ob sich hinter einer Provokation, Aggression oder einer sonstigen Verhaltensauffälligkeit nicht eine Depression oder tiefe Lebensangst verbirgt. Wie schnell sind wir geneigt, ein Kind abzulehnen, weil es uns stört und aufsässig oder schwierig wirkt! Dabei sind gerade solche Kinder oft sehr verletzlich und empfindsam, und auffällig zu werden ist für sie die einzige Möglichkeit, um Hilfe zu rufen. Wir sind alle dazu aufgerufen, diesen Kindern mit Verständnis zu begegnen und ihnen durch uns Schicksalshilfe zukommen zu lassen.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003