Herausfordern statt verwöhnen

Welche Herausforderungen braucht ein Kind?

Wie erkennt man, ob es über- bzw. unterfordert ist?

Was kann man bei Überforderung und Unterforderung tun?

Da Kinder auf Überforderung und Unterforderung oft mit den gleichen Symptomen reagieren, ist es nicht immer leicht, Resignation, Lustlosigkeit, Provokation und Aufbegehren richtig zuzuordnen:1

  • Begabte Kinder werden auffällig, weil sie sich langweilen.
  • Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen beginnen zu provozieren, weil sie nicht mitkommen bzw. nicht mitmachen können.

Alle Kinder brauchen Herausforderungen, die ihrem Lebensalter und Entwicklungsstand gemäß sind.2 Durch die damit verbundenen Erfolgserlebnisse wird ihr Selbstbewusstsein gestärkt – was Mut und Kraft für neue Aktivitäten bringt.

Die Werbebranche suggeriert uns dagegen, wie erstrebenswert ein Leben ohne Probleme wäre. Das wird unterstrichen durch vieles, was die Medien täglich verbreiten. Eltern sind deshalb schnell geneigt, ihrem Kind alles abzunehmen.3 Außerdem möchte man, dass das Kind „es gut hat“.

Fatales Verwöhnen

Man hat ständig die Trinkflasche bereit, hilft den Kleinen beim Aufräumen, spendiert noch ein Eis. Im Supermarkt, wo die entsprechenden Verlockungen in Augenhöhe der Kinder angeboten werden, bekommen sie oft das Gewünschte, damit die Quengelei aufhört. Später hilft man ihnen bei den Hausaufgaben, fährt sie überall hin und nimmt ihnen jeden Handgriff ab, sobald sie ein bisschen stöhnen. Für ihren Einsatz erhalten die Eltern meist keinen Dank, sondern sind mit immer weiteren Forderungen ihrer „leidenden“ Kinder konfrontiert, die so zu notorisch Hilfsbedürftigen werden.

  • Wer ständig Hilfe braucht und geschont wird, fühlt sich schwach – und ist es auch.
  • Wem man dagegen etwas abverlangt und zutraut, der wird dadurch tüchtig und selbstbewusst.

Dabei sind es oft unsere eigenen Ängste, die es uns daran hindern, unseren Kindern das nötige Zutrauen entgegenzubringen. Allzu gerne nehmen wir ihnen Tätigkeiten ab, die ihre Selbständigkeit fördern könnten. Dann fordern sie manchmal selbst auf „störende“, provozierende Art und Weise ein, was sie brauchen: Sie sind von Lärm, Schmutz und Chaos fasziniert, wollen Neues entdecken und ausprobieren, ihre Kräfte messen. Sie suchen die Herausforderung!

Stärkende Begleitung

Mitgefühl kann Eltern helfen, ihre Sprösslinge so zu begleiten, dass sie dadurch stark werden. Falsches Mitleid wird die situationsgerechte Begleitung behindern, indem Kindern die notwendige Orientierung und Herausforderung versagt wird und sie dadurch schwach bleiben.

Unser Vorbild ist immer noch das wirkungsvollste Erziehungsmittel. Was wir ganz selbstverständlich tun, ohne reden oder große Erklärungen, können unsere Kinder ungestört aufnehmen und nachahmen, was ja ihrem Naturell entspricht. Auch helfen sie gern, wenn man sie lässt. Es lohnt sich, selbst wenn es mehr Zeit kostet oder die ersten Male noch nicht so recht gelingt. Kinder fühlen sich wichtig und ernst genommen, wenn sie in der Küche mithelfen dürfen oder den Auftrag bekommen, den Müll hinauszutragen oder etwas zu holen, was nötig ist.

Zum „Fördern durch Fordern“ gehört auch, Grenzen zu setzen. Wer Grenzen setzt und Grenzen vertritt, kann Halt und Schutz geben – was ja Aufgabe der Eltern ist. Zu viel Freiraum bürdet Kindern eine Verantwortung auf, der sie nicht gewachsen sind. Indem wir sie zu sehr schonen und verwöhnen, nehmen wir ihnen die Chance, verzichten und warten zu üben.

Verstehen, was das Kind sagen will

Es ließe sich viel Unheil vermeiden, wenn Eltern und Lehrer die Provokationen und Frechheiten der Kinder nicht persönlich nähmen, sondern als Versuch verstehen könnten, etwas zu sagen, was sie nicht anders ausdrücken können. Jede erfahrene Mutter weiß, dass Quengelei, Heulen und Lustlosigkeit oft nur Ausdruck sind für Übermüdung oder Hunger. Ebenso sind viele der „schlechten Eigenschaften“ oder Frechheiten von Kindern eine Form, etwas auszudrücken, wofür dem Kind noch die Worte bzw. Gedanken fehlen. Eltern und Lehrern sollten gemeinsam überlegen, wie hier Abhilfe geschaffen werden kann: Z.B. könnte in der Schule ein besonders begabtes Kind neben einem weniger begabten und dadurch überforderten Kind sitzen, um ihm helfen zu können. Dadurch lernt es, einem anderen beizubringen, was es selbst schon kann – eine große Aufgabe, die seinen Ehrgeiz in eine menschliche soziale Richtung lenken kann.

Schwachbegabte neigen leicht dazu, sich als schwach, als dauernde Versager zu fühlen, die nichts richtig mitkommen. Wenn nun zu Hause oder in der Schule noch entsprechende Bemerkungen seitens der Eltern oder Erzieher fallen, werden sie bestärkt in dem Bewusstsein, dass sie nicht dem entsprechen, was man von ihnen erwartet.

Kinder nur an Höchstleitungen oder Versagen zu messen, ist Gift für die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins, das sich nur entfalten kann, wenn sie, unabhängig davon, was sie können oder nicht, erleben, dass sie als Menschen ernst genommen und bejaht werden, so wie sie sind, und die notwendige Unterstützung erfahren für einen nächsten Schritt: Es tut jedem Kind gut, wenn Eltern, Lehrern und Erziehern ihren Fokus darauf richten, dass es die Möglichkeit bekommt, etwas zu lernen, was es noch nicht kann. Kinder sind meist sehr dankbar, wenn man ihnen den Erwerb neuer Fähigkeiten zutraut. Aufmerksamkeit für ihr Tun und Anerkennung, wenn etwas gelingt, sind Kraftquellen, die Kindern über Widerstände und Hindernisse hinweghelfen.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

  1. Michaela Glöckler, Begabung und Behinderung, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004.
  2. Karin Lantzsch, Optimale Hindernisse auf dem Weg zum Erwachsenwerden, in: Ursula Schulz (Hrsg.), Kindsein heute. Alptraum oder Traum, Waiblingen 2000.
  3. Siehe hierzu auch Mathias Wais, Suchtprävention beginnt im Kindesalter. Erziehung als Begleitung zur Selbständigkeit, Stuttgart 2002.