Die Gewissensstimme

Aus dem bisher Dargestellten konnte deutlich werden, dass Erziehung zur Konfliktfähigkeit identisch ist mit einer Erziehung, die zum Ziel hat, das Ich des Kindes, insbesondere aber seinen Persönlichkeitskern (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit), anzusprechen und dessen Fähigkeiten zur Wirksamkeit zu bringen. Damit ist das Höhere im Menschen angesprochen, das sich uns zeigt, wenn wir auf unsere Gewissensstimme hören. Die treffendsten Worte, die bisher über das menschliche Gewissen gesagt wurden, stammen von Novalis. In seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ schildert er ein Gespräch zwischen dem Arzt Sylvester und Heinrich über das menschliche Gewissen. Heinrich fragt:

„‚Wann wird es doch‘, sagte Heinrich, ‚gar keiner Schrecken, keiner Schmerzen, keiner Not und keines Übels mehr im Weltall bedürfen?‘

‚Wenn es nur EINE Kraft gibt – die Kraft des Gewissens. Wenn die Natur züchtig und sittlich geworden ist. Es gibt nur EINE Ursache des Übels – die allgemeine Schwäche, und diese Schwäche ist nichts als geringe sittliche Empfänglichkeit und Mangel an Reiz der Freiheit.‘

‚Macht mir doch die Natur des Gewissens begreiflich.‘

‚Wenn ich das könnte, so wäre ich Gott, denn indem man das Gewissen begreift, entsteht es. [...]‘

‚[...] das Gewissen erscheint in jeder ernsten Vollendung, in jeder gebildeten Wahrheit. Jede durch Nachdenken zu einem Weltbild umgearbeitete Neigung und Fertigkeit wird zu einer Erscheinung, zu einer Verwandlung des Gewissens. Alle Bildung führt zu dem, was man nicht anders, wie Freiheit nennen kann, ohnerachtet damit nicht ein bloßer Begriff, sondern der schaffende Grund alles Daseins bezeichnet werden soll. Diese Freiheit ist Meisterschaft. Der Meister übt freie Gewalt nach Absicht und in bestimmter und überdachter Reihenfolge aus. Die Gegenstände seiner Kunst sind sein und stehn in seinem Belieben, und er wird von ihnen nicht gefesselt oder gehemmt. Und gerade diese allumfassende Freiheit, Meisterschaft oder Herrschaft ist das Wesen, der Trieb des Gewissens. In ihm offenbart sich die heilige Eigentümlichkeit, das unmittelbare Schaffen der Persönlichkeit, und jede Handlung des Meisters ist zugleich Kundwerdung der hohen, einfachen, unverwickelten Welt Gottes Wort. [...]‘

‚Allerdings ist das Gewissen der eingeborene Mittler jedes Menschen. Er vertritt die Stelle Gottes auf Erden, und ist daher so Vielen das Höchste und Letzte. Aber wie entfernt man die bisherige Wissenschaft, die man Tugend- oder Sittenlehre nannte, von der reinen Gestalt dieses erhabenen, weitumfassenden persönlichen Gedankens? Das Gewissen ist der Menschen eigenstes Wesen in voller Verklärung, der himmlische Urmensch. Es ist nicht dies und jenes, es gebietet nicht in allgemeinen Sprüchen, es besteht nicht aus einzelnen Tugenden. Es gibt nur EINE Tugend – den reinen, ernsten Willen, der im Augenblick der Entscheidung unmittelbar sich entschließt und wählt. In lebendiger, eigentümlicher Unteilbarkeit bewohnt es und beseelt es das zärtliche Sinnbild des menschlichen Körpers und vermag alle geistigen Gliedmaßen in die wahrhafteste Tätigkeit zu versetzen.‘“ 1

Nun gibt es viele Menschen, die über eine Gewissensstimme, wie sie hier von Novalis geschildert wird, gar nicht verfügen. Vielmehr klagen sie darüber, dass sie oft ein „schlechtes Gewissen“ haben, das bei bestimmten Entscheidungsprozessen im Alltag eher störend ist als nützlich. Sie erleben es nicht als von ihrem Höheren Ich inspiriert, sondern eher als Reminiszenz autoritärer Diktionen aus Kindheit und Schulzeit: Alles Mögliche war verboten – auf diese Weise wurde ihnen ein schlechtes Gewissen „gemacht“. Mit solchen Konditionierungen darf die aus dem Höheren Ich inspirierte Gewissensstimme nicht verwechselt werden.

Entwicklung der Gewissensstimme aus dem Höheren Ich

Am besten lässt sich die eigene Gewissensstimme aus dem Höheren im Menschen heraus entwickeln, wenn man sich mit den drei Kernidealen des Ich (vgl. Ideale: Die Ur-Ideale – Wahrheit, Liebe und Freiheit) befasst:

  • Ehrlichkeit mit sich und anderen,
  • Liebe zu sich und anderen,
  • Freiheit für sich und andere.

Wenn ich meine zu fällende Entscheidung unter diesen Gesichtspunkten befrage, werden andere Kriterien meine Entscheidungsfindung beeinflussen, als wenn ich sie nur nach dem Sympathie-/Antipathie-Prinzip oder aus pragmatischen Gründen fälle:

Wie sehen die Konsequenzen meiner Entscheidung aus, wenn ich sie ehrlich betrachte?

Wem zuliebe treffe ich diese Entscheidung?

Wessen Freiheit fördert sie?

Die Identifikation mit diesen Idealen kann zu einer Inspiration werden, die sich als „Gewissensstimme“ bemerkbar macht.

Damit hat man auch das Autonomieprinzip in sich selbst entdeckt – eine wichtige Voraussetzung, um andere ohne Gefahr für ihre Entwicklung führen zu können:

  • Durch die eigenständige Suche nach Wahrheit wird man unabhängig und unbestechlich,
  • durch die Schulung der Liebefähigkeit lernt man die Wünsche und Interessen von anderen verstehen,
  • und das Freiheitsideal bewirkt, dass man die Intentionen und Impulse anderer ernst nimmt und berücksichtigt.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 10. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997**

  1. Novalis (d.i. Friedrich von Hardenberg), Heinrich von Ofterdingen. Ein Roman. Der Morgen, Berlin 1986.