Der esoterische Krankheitsbegriff

Im Jungmedizinerkurs1 kann man nachlesen, dass jede Krankheit auch eine unbewusste Einweihungsbegegnung mit dem Hüter der Schwelle ist. In einem Notizbucheintrag Rudolf Steiners befindet sich ein erster Entwurf einer Meditation für die Jungmediziner, der später eine andere Form bekam. Es handelt sich um eine rein esoterische Formulierung:

Begegnung

Es strömen an der Schwelle
Sinnesdunkel und Geisteshelle
Zum Blendwerk ineinander.
Dieses Blendwerks Abbild
Ist die Krankheit.
In der Krankheit lebet der Hüter,
Begegnung im Geist bewusst.
Begegnung im Körper unbewusst.2

Selbst wenn ein Mensch an einer Krankheit stirbt, die ihm viele Schmerzen bereitet hat, wird er nach dem Tode davon profitieren: Die ätherischen Kräfte, die am Verlauf der Krankheit beteiligt waren, z.B. indem sie Krebswucherungen erzeugten, lösen sich nach dem Tod aus dem ätherischen Organismus heraus und vereinigen sie sich mit allem, was der Mensch durch bewusste Erkenntnis erringen konnte. Denn nach dem Tod erwacht der Mensch zu allem, was er auf Erden getan hat, egal ob bewusst oder unbewusst. Was er durch Krankheiten auf unbewusste Weise errungen hat, auch durch Schmerzen, wird ihm nach dem Tode bewusst und er begreift, dass der Sinn seiner Krankheit darin lag, sie zu durchleiden. Durch Krankheit erreicht der Mensch über die körperliche Ebene in der Sphäre der Naturgesetze dasselbe Entwicklungsziel wie über den rein geistigen Entwicklungsweg.

Geheimnisse von Gesundheit und Krankheit

Zum besseren Verständnis dieser Prinzipien: Rudolf Steiner nennt im Pastoralmedizinischen Kurs3 einen Spruch für Priester und Ärzte, der das Geheimnis des Merkurstabes in Worte fasst und eine Verbindung herstellt zu den genannten Zeilen aus dem Grundsteinspruch. Er lautet sinngemäß:

„Ich werde den Weg gehen, der die Elemente in Prozess auflöst. Er bringt mich hinunter zum Vater, der die Krankheit schickte, damit das Karma ausgeglichen wird, und bringt mich hinauf zum Geist, der die Seele durch Irrtümer (und Schuld) geleitet, damit sie Freiheit entwickelt.“

Das ist der Merkurstab in Worten – alle Geheimnisse von Gesundheit und Krankheit sind in dieser einen Meditation zusammengefasst:

  • Der Vatergott schickt uns Krankheit bzw. Störungen, um das Schicksal auszugleichen. Das geschieht in der Nacht, die die Domäne des Vaters ist. Wir nehmen den Körper, wie er ist. Auch können wir die Geburtsum-stände nicht verändern.
  • Das alltägliche Leben, die Möglichkeit Tag für Tag über Versuch und Irrtum zu lernen, ist die Domäne des Heiligen Geistes.
  • Und der Christus führt hinab zum Vater und hinauf zum Geist, um im Zuge der Entwicklung den Geistesmenschen im Erdenmenschen zu erschaffen.

Der Heilige Geist weiß, dass wir im Leben irren können. Wir geraten in Schuld, wenn wir nicht unseren eigenen Weg finden, wenn wir nicht das Gute suchen und zu tun bestrebt sind. Dieser Gedanke ist sehr schmerzlich, doch kann es nicht anders sein: Man kann keine Freiheit erlangen, ohne Grenzen erlebt zu haben. Man kann nicht lernen in Freiheit zu lieben, wenn man nicht erlebt hat, wie es sich anfühlt, nicht geliebt zu werden oder wie schmerzlich es ist, wenn man anderen schadet. Wir brauchen die Dunkelheit, um das Licht verstehen zu können. Liebe und Freiheit brauchen einander. Deshalb kann echte Liebe alles aushalten, alles verarbeiten. Sie ist der Heiler unseres ICH BIN, wenn dieses lernt unsere Liebesressourcen anzuzapfen.

Jeder Moment der Verzweiflung, des Todes, des Wandels, der Transformation, dagegen ist ein Geschenk des Christus: die Tatsache, dass wir uns verwandeln können, dass wir sterben und uns transformieren können; dass wir Regeln brechen und neue kreieren können. Das Mysterium des Lebens ist, dass es in den Tod mündet, sodass Tod die Frucht des Lebens ist. Wir werden geboren, um zu sterben. Das ist die Sphäre von Christus, dem Meister des Schicksals.

Die drei Rosenkreuzerworte

Drei Zeilen aus der Grundsteinmeditation, auch Rosenkreuzerworte genannt, können uns in Bezug auf Krankheit und Gesundheit geistige Orientierung geben und dem besseren Verständnis dieser Sphäre dienen.

  1. „Ex deo nascimur“
  2. Wir entwickelten uns aus dem Vatergott – wir sind Kinder des Vaters, aus dem Vater geboren.

  3. „In christo morimus“
  4. In Christus sterben wir. Unsere große Chance liegt in der Art, wie wir uns darauf vorbereiten: ob wir ihm, unserem Höheren Ich, mehr oder weniger bewusst begegnen werden. Das ganze Leben dreht sich um die Suche nach diesem Höheren Ich, dem Christus, denn wir tragen in uns die Sehnsucht IHM zu begegnen. Im Todesmoment begegnen IHM alle Menschen als dem höchsten Hüter der Schwelle, egal, wie materialistisch sie gesinnt waren. Und je nachdem, wie sie sich vorbereitet haben, schlafen sie entweder ein oder bleiben wach, um zwischen Tod und einer neuen Geburt mit dem Heiligen Geist die nächsten Lernerfahrungen zu planen, z.B. auch, ob bestimmte Krankheiten „gebraucht werden“ in der nächsten Inkarnation.

  5. „Per spiritum sanctum reviviscimus“
  6. Wir werden im Heiligen Geist erwachen zu unserer Aufgabe, uns selbst und andere zu heilen. Wir werden initiiert, werden auferweckt durch den Heiligen Geist.

Anhand dieser drei Zeilen können wir erkennen, dass die Vergangenheit aus dem Vater geboren wurde mitsamt dem vollen Risiko von Krankheit. Denn Krankheit hat mit unserem Körper zu tun und mit den Kräften, aus denen wir geboren wurden. Heilung ist ein zukünftiges Ziel – unangreifbar, unverwundbar zu werden. Das liegt weit in der Zukunft. Zwischen diesen Polen haben wir das Risiko des Lebens, das immer in Gefahr ist. Das Gleichgewicht kann in jedem Moment verloren gehen und wir werden krank – oder wir finden neue Kräfte und stehen wieder auf.

Vgl. mit einer Zusammenstellung von Vorträgen über „Die sieben Siegel der Apokalypse“ gehalten 2007

  1. Rudolf Steiner, Jungmedizinerkurs, GA 316.
  2. Rudolf Steiner, Mantrische Sprüche. Seelenübungen II. 1903-1925, GA 268, Dornach 1999, S. 304 „Begegnung" wie abgedruckt.
  3. Rudolf Steiner, Pastoralmedizinischer Kurs, GA 318, Dornach, 8. bis 18. September 1924.