Hiob – Schuld und Krankheit

Die schwer verständliche Geschichte von Hiob1 (vgl. Krise als Chance: Hiobs Geschichte – Prototyp einer Lebenskrise) hat ein Vorspiel „im Himmel". Dort spricht Gott, der Herr, mit dem Teufel und lobt seinen Knecht Hiob, an dem kein Fehl und Tadel ist. Der Teufel hört sich das an, weist jedoch darauf hin, dass es für Hiob nicht schwer sei, ein gottgefälliges Leben zu führen, da es ihm ja so gut gehe. Er habe alles, was ein Mann zum Leben brauche: eine liebe Frau, Kinder, Reichtum, Freunde und – Gesundheit. „Aber", so setzt der Teufel hinzu, „recke deine Hand aus und taste an alles, was er hat: Was gilt's, er wird dir ins Angesicht absagen." Gott, der Herr, lässt sich auf diese Wette ein und gibt dem Teufel die Macht, Hiob mit allen nur erdenklichen Plagen zu schaden – mit einer Ausnahme: er darf ihn nicht töten. Und so kommt Hiob völlig „schuldlos" in Elend und Not, sodass schließlich alle an ihm zweifeln und ihn verdächtigen, insgeheim eine schwere Sünde auf sich geladen zu haben, da Gott gemäß dem jüdischen Glauben keine Unschuldigen straft. Hiob, der sich keiner Schuld bewusst ist, und der Schicksalsumkreis, der in Hiobs Krankheit und Not ebenfalls keinen Sinn erkennen kann, werden vorbereitet, etwas noch viel Tieferliegendes zu verstehen: dass man auch dadurch „schuldig" werden kann, dass man meint, Irrtum und Böses seien nur bei anderen Menschen zu finden, wohingegen man selber schon untadelig und rein sei.

Doch selbst wenn man schon ohne Fehl und Tadel wäre und ein echt gottgefälliges Leben führen würde, müsste man sich fragen:

Was waren die Bedingungen meiner Entwicklung?

Wodurch habe ich mein untadeliges Wesen erwerben können?

Wie konnte ich überhaupt lernen, ein guter Mensch zu werden?

Wie viel habe ich dabei von anderen gelernt?

Wie oft sah ich fremdes Leid und lernte daraus und wurde so davor geschützt, selbst den das Leid verursachenden Fehler zu machen?

Ist mein fortgeschrittener Entwicklungsgrad nicht auch der Tatsache geschuldet, dass andere um mich her noch Seelenqual, Schuld, Krieg und Not erleiden?

Es liegt nahe, einzusehen, dass man sein So-Sein den Menschen verdankt, mit denen man gelebt hat. Man verdankt es aber auch der Tatsache, dass die Menschheit als Ganze in Entwicklung begriffen ist: Wenn wir im eigenen Schicksalsumkreis mit einem bestimmten Problem nicht konfrontiert wurden, von dem wir hätten lernen können, berichtet uns die Menschheitsgeschichte darüber, lernen wir aus den Erfahrungen anderer. Wir verdanken unser So-Sein nicht nur dem persönlichen Schicksalsumfeld, sondern auch dem großen Entwicklungsprozess der Menschheit selbst.

Als Hiob diese Tatsache zu begreifen begann, wurde er als würdig erachtet, Gott zu schauen. Er hat den Sinn des Mensch-Seins erfahren und dabei die Gottesnähe erlebt – gerade auch im Leid.

Drei Ebenen von Schuld

Damit erfährt auch der Begriff „Schuld" eine Erweiterung:

  • Es gibt die individuelle Schuld, über die sich der einzelne Mensch am besten selbst Rechenschaft ablegt.
  • Dann gibt es das Schuldig-Werden an anderen Menschen, auch dann, wenn man davon nicht einmal weiß: Man lebt in der Illusion, richtig gehandelt zu haben, und ahnt nicht, zu welchen Schmerzen oder gar Zusammenbrüchen das eigene Handeln bei anderen Menschen geführt hat. Diese Schädigung anderer Menschen, auch wenn sie einem nicht bewusst ist, bedarf in irgendeiner Form des Ausgleichs, u.U. auch erst in einem späteren Erdenleben.
  • Es gibt aber auch Schuld auf der menschheitlichen Ebene. Sie hat mit Gott selbst zu tun: Indem Er von Anbeginn der Schöpfung an das Böse als Bestandteil unserer Entwicklung zuließ, trägt auch Gott für diesen Ratschluss, diesen Urentscheid „Schuld". Ausdruck davon sind im Alten und Neuen Testament Stellen, an denen unmittelbare Zwiesprache z.B. zwischen Gott und Teufel oder zwischen Christus und dem Geist einer Krankheit stattfindet (vgl. Krankheit: Krankheit, Heilung und die Frage nach dem Sinn).

Verwandlung von Schuld

Angesichts allgegenwärtiger Schuld, z.B. was sich an sogenannter Kollektivschuld in Deutschland und anderen Ländern angehäuft hat, aber auch im Hinblick auf die vielfältige Verschuldung des modernen Lebens gegenüber Mensch und Natur, ist es hilfreich sich zu fragen:

Was will diese Verschuldung – woher auch immer sie kommt – uns, mich, heute lehren?

Wie kann ich Schuld durch tätige Mitverantwortung auflösen und verwandeln helfen?

Durch eine solche Fragehaltung erfährt Schuld eine wohltuende Metamorphose. Denn es geht nicht mehr darum, w e r etwas verschuldet hat, sondern einzig und allein darum, w o r a u f diese sogenannte Schuld hinweisen und aufmerksam machen will – was man an ihr und durch sie lernen kann und welche positiven Entwicklungsmöglichkeiten dadurch eröffnet werden. Eine solche Auffassung von Schuld hilft uns nicht nur, mit wachsender Dankbarkeit und innerer Ruhe auf Leben und Mitwelt hinzublicken. Sie hilft uns auch, im Falle von Leid oder Krankheit, die uns scheinbar „unschuldig" treffen, zu erkennen, dass man dadurch bewusst am Leid der Menschheit Anteil nimmt – und nicht nur persönliche Verfehlungen ausgleicht. Vorbild dafür ist in der biblischen Tradition das Buch Hiob, und im neuen Testament ist es der Christus, der schuldlos „der Welt Sünde trägt".

Vgl. „Begabungen und Behinderungen", 10. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004**

  1. Aus dem Buch Hiob des Alten Testaments. - Goethe hat diese „Krankengeschichte" in seinem Faust, dem modernen Hiob-Buch, dramatisiert. Damit bekommt gerade dieser Krankheitstypus für die heutige Menschheit besonderes Gewicht. Denn die Faustgestalt steht für die Entwicklungsdramatik des modernen Menschen, der sich seines Paktes mit dem Teufel, d.h. seiner Beziehung zum Bösen, bewusst werden kann.