Hiobs Geschichte – Prototyp einer Lebenskrise

Die christliche Prophetie, dass jeder durch Erkenntnis der Wahrheit zur Freiheit gelangen kann, und dass ein solcher Weg in einer Gemeinschaft „freier Geister“ gipfeln wird, ist eine klare Perspektive zur Überwindung von kollektiven Wertegemeinschaften, in denen soziale Kontrolle und angstbesetzte Sanktionen weitgehend vor Verfehlungen und „dem Bösen“ geschützt haben. Was böse und gut war, stand im Gesetz – es lag nicht in der individuellen Verantwortung des einzelnen Menschen. Dies ändert sich erst in Folge der Ausbreitung des Christentums. Umso beachtlicher ist es, dass dieses Neue im Buch Hiob schon deutlich anklingt, wie um die Menschen auf diese Zukunft vorzubereiten (vgl. Krankheit: Hiob – Schuld und Krankheit).

Beim Lesen des Buches Hiob werden wir Zeuge, wie Gott einen Gerechten straft – aller bisherigen Tradition zum Trotz. Wir erleben, dass „der gute Mensch“ geprüft wird. Alles wird ihm genommen, was er vorher besaß – eine Situation wie in einer schweren Lebenskrise – uns heutigen Menschen wohlvertraut. Das Bisherige trägt nicht mehr, das Neue ist noch nicht in Sicht. Fragen über Fragen regen sich – auch Aufbegehren und Verzweiflung. Hiob kann es nicht fassen – auch seine Angehörigen und Freunde nicht. Sie denken, er müsse doch heimlich eine schwere Sünde auf sich geladen haben. Auch Hiob zweifelt – an sich und der Gerechtigkeit der Welt, für die Gott steht. Er muss sein Verhältnis zu Gott und zu sich selbst ganz neu bestimmen. „Gott straft keinen Gerechten“ – so hatte es ihn die Tradition gelehrt. Er ist sich keiner Schuld und Ungerechtigkeit bewusst und so versteht er sich, die Welt und Gott nicht mehr. Erst als es ihm möglich wird, ganz aus sich heraus und neu – angeregt durch viele Gespräche mit Menschen in seinem Umkreis – nach der Identität Gottes zu fragen und alles in Betracht zu ziehen, was Gott jedem Menschen an Vollkommenheit voraus hat - erst als er Gott schaut in allen seinen Werken, die auch die dem Menschen gegebene Möglichkeit des Bösen umfasst, erst als er erkennt, dass er ein Teil eines großen vollkommenen Ganzen ist, kann er fragen:

Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?

Oder ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat? (Hiob 4:17)

Erst als er sich vor Gottes Angesicht im Spiegel des Guten vollkommenen schaut, kann er empfinden:

„Siehe, selig ist der Mensch, den Gott straft; darum weigere dich der Züchtigung des Allmächtigen nicht.“ (Hiob 5:17)

„Denn er verletzt und verbindet; er zerschlägt und seine Hand heilt.“ (Hiob 5:18)

Denn erst angesichts des Vollkommenen empfindet man sein Werden als Mensch, seine dauernde Unvollkommenheit so recht tief und kann zu Gott sagen:

„Verdamme mich nicht! Laß mich wissen, warum du mit mir haderst.“ (Hiob 10:2)

Er erkennt, dass er ein Werdender ist und Belehrung braucht. Er fühlt, dass die Auseinandersetzung mit dem Bösen, der Irrtum und die Schuld auf dem Wege zur Vollkommenheit nicht ausbleiben können, dass dies zum Menschsein dazu gehört – dass diese vollkommene Menschwerdung aber in unser „innerstes Gemüt“ als Entwicklungsziel gelegt ist. Rudolf Steiner hat dies in seinem „Esoterischen Vaterunser“ in besonders eindringlicher Weise zum Ausdruck gebracht:

Vater, der du warst, bist und sein wirst in unser aller innerstem Wesen!
Dein Wesen wird in uns allen verherrlicht und hochgepriesen.
Dein Reich erweitere sich in unseren Taten und in unserem Lebenswandel.
Deinen Willen führen wir in der Betätigung unseres Lebens so aus wie Du, o Vater, ihn in unser innerstes Gemüt gelegt hast.
Die Nahrung des Geistes, das Brot des Lebens, bietest du uns in Überfülle in den wechselnden Zuständen unseres Lebens.
Lasse Ausgleich sein unser Erbarmen an anderen für die Sünden an unserem Wesen begangen.
Den Versucher lässt du nicht über das Vermögen unserer Kraft in uns wirken, da in deinem Wesen keine Versuchung bestehen kann; denn der Versucher ist nur Schein und Täuschung, aus der du, o Vater, uns durch das Licht deiner Erkenntnis sicher herausführen wirst.
Deine Kraft und Herrlichkeit wirke in uns in die Zeitläufe der Zeitläufe.1

Obgleich dieses Vollkommene in jedes Menschen Ichheit als „Gottesfunke“ veranlagt ist, werden wir unausgesetzt aneinander schuldig. Nur scheinbar bleibt uns viel „eigene“ Schuld erspart. Denn:

Lernen wir nicht ebenso aus den Fehlern anderer wie aus unseren eigenen?

Werden sie nicht auch um unseretwillen schuldig, damit wir es nicht werden müssen?

Diese Tatsache, die Hiob erkennt, gemahnt an das „Makrokosmische Vaterunser“, von dem Rudolf Steiner berichtet, wie es der Jesus von Nazareth vor der Jordantaufe in einem verlassenen Tempel geoffenbart bekommt und spricht. Jesus erlebt die waltenden Übel auf der Erde mit größtem Mitleid für die Menschheit und erkennt, dass es diese von anderen erschuldete Selbstheitschuld geben muss, damit der einzelne Mensch sich seiner eigenen Ichheit bewusst werden kann. Dazu braucht es auch die – vorübergehende – Losgelöstheit von Gott:

Amen
Es walten die Übel,
Zeugen sich lösender Ichheit,
Von andern erschuldete Selbstheitschuld
Erlebet im täglichen Brote,
In dem nicht waltet der Himmel Wille,
Da der Mensch sich schied von Eurem Reich
Und vergaß Euren Namen,
Ihr Väter in den Himmeln.2

Dies erahnend, kann Hiob alles als von Gott kommend annehmen und bittet um Hilfe für seinen weiteren Weg, indem er sich zu seiner Unvollkommenheit bekennt. Seine „Schuld“ bestand darin, dass er dachte, er habe keine...

„Und Hiob antwortete dem HERRN und sprach: Ich erkenne, dass du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer. Wer ist der, der den Ratschluss verhüllt mit Unverstand? Darum bekenne ich, dass ich habe unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe. So höre nun, laß mich reden; ich will dich fragen, lehre mich! Ich hatte von dir mit den Ohren gehört; aber nun hat dich mein Auge gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.“ (Hiob 42:1-6)

Nach dieser entscheidenden Selbsterkenntnis, geboren aus tiefstem Schmerz, kann sich sein Schicksal wieder zum Guten wenden. Er wird gesund, sein Reichtum kehrt zurück und er erreicht ein hohes Alter.

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015

  1. Rudolf Steiner, Mantrische Sprüche. Seelenübungen II, GA 268, Dornach 1999, S. 341.
  2. Ders., Aus der Akasha-Forschung. Das fünfte Evangelium, GA 148, Dornach 1992, S. 326.