Tastsinnpflege in der Kunsttherapie

Wie kann der Tastsinn mithilfe von Kunsttherapie gepflegt werden?

Welche Aspekte sind dabei besonders zu beachten?

Existenzvertrauen erwerben durch Pflege des Tastsinns

Zur Tastsinnpflege gehört bereits der erste Eindruck: dass die ganze Einrichtung und die Art, wie der Therapeut mit seinen künstlerischen Mitteln umgeht, von Sorgfalt und Ehrfurcht getragen ist. Denn auch all das wird ertastet. Und immer wenn wir das Außen abtasten, ist auch das Ich zugegen und erlebt, wie der eigene Leib der Umwelt begegnet; wie Göttliches im Menschen, dem Göttlichen in der Welt begegnet. Daraus erwächst Existenzvertrauen, das wir Menschen brauchen, um gesund durchs Leben zu gehen. Es ist ein Geschenk des Tastsinns (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Tastsinn). Gestörtes Vertrauen, ein gestörter Glauben in sich und die Welt, weist dagegen auf einen gestörten Tastsinn hin, da können wir ganz sicher sein. Ziel jeder Therapie ist es, mit künstlerischen Mitteln Tastsinnerfahrungen zu ermöglichen, die positiv in das Seelische einstrahlen und Urvertrauen, Vertrauen in die Gott-Durchdrungenheit der Substanz, entstehen lassen.

In seltenen Fällen sind auch die physischen Tastsinn-Organe geschädigt. Aber letztlich ist es nicht das, was als Diagnostik für eine Therapie relevant ist, sondern die Frage, ob und inwieweit der Prozess einer gesunden Einstrahlung der Sinneserfahrung über die Empfindung und das Gefühl bis ins bewusste Existenzerleben als Existenzvertrauen gestört ist. Im Folgenden möchte ich beispielhaft auf die Anorexia nervosa und auf Angststörungen eingehen.

  • Tastsinnpflege bei Anorexia nervosa

In der Schulmedizin gibt es eine neue Therapie für die Anorexia nervosa, die Pubertätsmagersucht. Die Betroffenen müssen drei Mal täglich für eine Stunde einen maßgeschneiderten, ganz eng sitzenden Kunststoffanzug aus Neopren-Material tragen, um sich verstärkt zu spüren. Denn man hat festgestellt, dass bei anorektischen Patienten eine gravierende Störung der Körperwahrnehmung vorliegt. Das Ergebnis einer gesunden Tasterfahrung, dass der Leib Vertrauen in die Welt hat, ist bei ihnen seelisch nicht veranlagt worden. Deshalb lohnt es sich, die fehlende Tastsinnerfahrung mit den unterschiedlichsten Mittel therapeutisch „nachzureichen“ und den Betroffen zu helfen das fehlende Vertrauen doch noch zu entwickeln. In dieser Hinsicht ist es enorm wirkungsvoll, auch rhythmische Massage und Öl-Bäder einzubeziehen, wie es gerade bei der Anorexia nervosa in der Anthroposophischen Medizin praktiziert wird.

Auch in der Kunsttherapie muss ständig an und mit der Grenze gearbeitet werden: Man kann Grenzen malen, plastizieren und wieder auflösen, sie erleben, damit umgehen, daran gestalten – also den Tastsinn ansprechen über den Umgang mit Grenzen von unterschiedlichen Weichheits- und Härtequalitäten, wie man es mit den künstlerischen Mitteln auf dem jeweiligen Feld eben kann. Daran sollen und werden Empfindungen und Gefühle entstehen, auch für die Grenze und den Unterschied zwischen unten und oben, Schwere und Leichte, innen und außen. Dadurch kann sich mit der Zeit ein neues gesundes Körpererleben, Vertrauen in den eigenen Körper, Selbstvertrauen und Weltvertrauen bilden.

  • Tastsinnpflege bei Angststörungen

Auch bei Angststörungen liegt immer ein gestörter Tastsinn vor. Vertrauensverlust und Existenzunsicherheit gehen immer einher mit Angst. Deshalb ist es hilfreich für die Diagnose zu schauen, wie ängstlich und angsterfüllt ein Mensch ist. Auch hinter der Magersucht verbirgt sich oft unbewusste Angst.

Will man den Betreffenden helfen ihre Angst zu verlieren, muss man auch mit ihnen bewusst so an den Grenzen arbeiten, dass sie innerhalb davon zu einer neuen Sicherheit finden: Dazu gehört ein neues, von Vertrauen getragenes Erleben ihrer selbst in den eigenen Körpergrenzen, aber auch das Leben innerhalb von sicheren Grenzen im Sozialen, vor allem zu Hause. Die verschiedenen Entängstigungstechniken setzen einerseits beim Bewusstsein an, arbeiten aber auch über die Empfindung und das Gefühl: Ich schaffe mir meinen eigenen Raum.

Es gibt wunderbare Dokumente, wie es selbst im Gefängnis gelingen kann, sich diesen Ruhe- und Sicherheitsraum zu schaffen. Dietrich Bonhoeffer1 schrieb drei Monate vor seiner Hinrichtung im letzten Brief an seine Verlobte das berühmte Lied: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Das ist tiefer Ausdruck eines gesunden Tastsinns: Durchdrungen zu sein mit Gott-Gefühl, sagt Rudolf Steiner, sei das Ergebnis einer gesunden Tasterfahrung. Warum? Weil das Ich als geistiges Wesen erlebt: Dies hier ist mein Leib, das dort ist die Welt, ich bin meinem Wesen nach unabhängig davon (vgl. Sinne(spflege): Aufgabe der Sinne). Und wenn mir das materielle Zuhause genommen wird, bin ich trotzdem geborgen in dieser Welt, der alles angehört. Es ist eine wunderbare Übung, sich allen Dingen mit diesem Empfinden gegenüberzustellen.

Vgl. Vortrag „Der Tastsinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung

  1. Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossenbürg) war ein lutherischer Theologe, profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche und am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer, ges. am 12.10.2016.