Machtausübung in der Biographie

Wie kann der Einzelne verantwortlich und konstruktiv mit der Macht, die er hat, umgehen?

Inwiefern kann uns das Leben Jesu dazu als Vorbild dienen?

Macht und Ohnmacht in der Biographie

Wer die Berichte vom Leben Jesu in den Evangelien liest, begegnet hier einer Biographie, in der die Ideale der menschlichen Entwicklung so weit vorgelebt werden, dass man nur sagen kann: In diesem Menschensohn mit dem Gottesbewusstsein sind sie volle Wirklichkeit, sind sie Realität geworden. Umso bestürzender ist es, dass auch hier die Realität des Bösen am Anfang (als Kindermord zu Bethlehem) und am Ende (als Passion und Tod auf Golgatha) in nicht zu überbietender Menschenverachtung in Erscheinung tritt. Das Leben Jesu kann ein Vorbild sein für jede Biographie in Bezug auf das Streben nach Menschlichkeit (vgl. Biographiearbeit: Biographiearbeit als Weg zu Christus) und zugleich auch ein unendlicher Trost im Hinblick auf alles Leidvolle, von dem der Lebenslauf gezeichnet sein kann.

Man sieht, beides gehört zusammen, auch in der Biographie des Jesus Christus. Ihr kann man die wesentlichen Hilfen entnehmen für den Umgang mit Machtproblemen. Im Gespräch mit Pilatus wird das entscheidende Wort ausgesprochen: „Du hättest keine Macht über mich, wäre sie dir nicht von einem Höheren gegeben.“1 Ähnlich bekannt und bedeutsam ist der Ausspruch: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“2

Auf unsere alltäglichen Konfliktsituationen übertragen, können uns diese Worte aufmerksam machen auf die Aufgabe der Macht im individuellen und sozialen Leben. Durch den häufigen Machtmissbrauch hat der Begriff „Macht“ keinen guten Klang. Macht ist jedoch das Edelste, was der Mensch zur Verfügung hat: die Fähigkeit, etwas zu tun und damit eine Aufgabe oder eine Situation zu beherrschen bzw. ein Arbeitsgebiet zu verwalten (vgl. Macht: Beziehung und Machtausübung). Die Frage ist nur, ob das, was getan wird, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort ist, so dass es als gut und hilfreich erlebt wird, oder ob jemand seine Macht für Handlungen einsetzt, durch die andere zur Seite gedrängt oder geschädigt werden.

Macht als anvertrautes Gut begriffen

Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass einem die Macht, über die man aufgrund seiner Ausbildung und seiner sozialen sowie beruflichen Stellung verfügt, von der Schicksalsführung anvertraut wurde, um sie zum Segen der Mitwelt zu gebrauchen, nicht jedoch, um sie störend oder zum Schaden anderer einzusetzen. Wer Macht als berechtigten Anspruch erlebt, für wen die Freude zu herrschen Selbstzweck ist, missbraucht das ihm gegebene Gut.

Das ist auch der Fall, wenn ein Mensch Angst hat, seine Macht könnte schwinden, wenn andere fähige Menschen in seinem Umfeld auftauchen, und der diese nun mit den verschiedensten Mitteln daran hindert, tätig zu werden, um selber unbestritten an der Spitze zu bleiben. So wird oft mit aller Macht verhindert, dass rechtzeitig ein geeigneter Nachfolger für die eigene Position gefunden wird und dass andere, jüngere Kräfte in wichtige Aufgaben hineinwachsen können.

Es gibt keine Haltung, die besser vor Machtmissbrauch schützen könnte als die christliche, die die eigene Macht als von einem Höheren gegeben betrachtet und sie solange ausübt, wie die Verhältnisse oder die Aufgaben es erfordern – und stets bereit ist, sie weiterzugeben. In dieser Haltung lebt die Ehrfurcht vor dem Schicksal anderer und seiner geheimnisvollen Regie, die man oft erst nach Jahren in ihrer Sinnhaftigkeit durchschaut. Entscheidend ist nicht, wer eine Aufgabe besorgt, sondern dass sie so gut wie möglich bewältigt wird.

Aktionismus und versteckter Drang zu herrschen

Viele Menschen leiden an einem enormen Wahrnehmungsdefizit: Oft wird zu wenig beobachtet, was wirklich gebraucht wird. Viel Zeit und Kraft werden in unnötigen Aktionismus gesteckt. Zum anderen leiden wir gegenwärtig an einem gestörten Verhältnis zu Führungs- und Machtfragen nach dem Motto: Entweder alle oder keiner.

In den weltweiten Demokratiebestrebungen liegt nicht nur der Impuls verborgen, den Einzelnen aus überlebten zentralistischen Machtstrukturen zu befreien, sondern auch ein uneingestandener Drang, selbst zu herrschen. Der Trend zur Mitbestimmung bei allem und jedem verschleiert das und führt oft zu unhaltbaren sozialen Zuständen, weil mithilfe des Vetorechts jeder jeden in seiner Handlungsfreiheit einschränkt und blockiert. Zu den Forderungen unserer Zeit gehört es, transparente Arbeitsformen zu schaffen für individuell oder gemeinsam zu ergreifende Aufgabengebiete.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Neues Testament, Johannes 19, 11.
  2. Neues Testament, Matthäus 22, 22.